Briefe in die chinesische Vergangenheit
weniger regiert wird, alle Zügel schleifen, und die Würdenträger rasen wie die Ferkel, die vom Dreckwurm befallen sind, durchs ganze Land und schreien und zetern, daß ja der Name keines anderen und nur ihrer angekreuzt wird. An allen Wänden hängen grellbunte Bilder, auf denen diese Kandidaten die Zähne fletschen (wahrscheinlich um zu zeigen, welchen Mut und welche Widerstandskraft sie haben) oder kleine Kinder küssen. Warum sie weiter ihr Würdenträgeramt behalten wollen (der Fachausdruck dafür lautet, sagt mir Herr Shi-shmi: »am Sessel kleben«), war mir nicht ohne weiteres klar. Man möchte meinen, daß mit der Zeit dem Würdenträger die Last zu schwer wird, und auch, daß sein Vermögen schrumpft. Nicht so hier: erstens tun, sagt Herr Shi-shmi, die Würdenträger, sobald sie ausgewählt sind, nichts Nennenswertes mehr. Es gibt hier ein Sprichwort, das die Tätigkeit der Würdenträger bezeichnet. Sinngemäß lautet es: »Der Mandarin trägt die Verantwortung, das schwere eiserne Bettgestell trägt sein Untergebener.« Zweitens: die Würdenträger werden dafür, daß sie ein Amt übernehmen, auch noch bezahlt. Dadurch ist »Politiker sein« ein Beruf geworden, sogar ein stark einträglicher, weil zum Salär auch noch die Bestechungssummen kommen. Und zu allem Überfluß wird ausgerechnet für diesen Beruf keinerlei Prüfung vorausgesetzt, ob der einzelne dazu geeignet ist. Es genügt, daß der Betreffende von sich überzeugt ist. Daß unter diesen Umständen das an sich lobenswerte System der »Volksherrschaft« verkommt, ist klar. Die größte Chance, Würdenträger zu werden, hat, sagt Herr Shi-shmi, »Herr Li, der in alle Läden rennt 23
› Hinweis
«.
Vorgestern habe ich so einen, der derzeit Minister ist und um alles in der Welt nicht von seiner Pfründe vertrieben werden will, auf dem Großen Platz Ma-ja gehört. Er hat mit der offenbar rituell vorgeschriebenen Würdenträgerstimme gesprochen. Die Stimme der Großnasen ist, wie ich Dir schon mehrfach berichtet habe, stark tief und brummend. Nur wenn Würdenträger öffentlich sprechen, benutzen sie eine hohe Stimmlage. So ist das, wenn einer in der Fern-Blick-Maschine erscheint und redet, und so ist es, wie ich mich überzeugen konnte, auch in natura. Der Würdenträger fistelte zwei Stunden lang davon, wie schwer es ist, im Gegensatz zum eisernen Bettgestell, die Verantwortung zu tragen. Soviel ich unter den Zuhörern herauszuhören glaubte, hat ihm keiner geglaubt. –
Ich grüße Dich und bin Dein
Kao-tai
Dreiunddreißigster Brief
(Dienstag, 28. Januar)
Lieber Freund Dji-gu.
Der vorletzte Wintervollmond ist gekommen. Es liegt immer noch Schnee. Das Wetter ist trostlos.
Gestern war ich mit Frau Pao-leng in der Schule, in der sie unterrichtet. Die Schule ist ein großes Haus mitten in der Stadt, und der Lärm der Straße ist so heftig, daß man fast sein eigenes Wort nicht versteht. Ich hätte gern einer Lektion beigewohnt, aber erstens wird es nicht gern gesehen, daß ein fremder alter Mann unter den Schülern sitzt, und zweitens hat Frau Pao-leng gesagt, daß sie unsicher und nervös wäre, wenn ich da hinten sitze und ihr quasi auf die Finger schaue. Ich hatte auch das Gefühl, daß sich Dame Pao-leng beim Betreten des – im Übrigen sehr unschönen und schmutzigen – Schulhauses von einer Frau in eine Lehrerin verwandelte. Sie betrat eine andere Welt. Es war so, als ob sie schlagartig von einem Licht anderer Farbe beleuchtet würde. Selbst ihre Sprache mir gegenüber wurde anders. Ich hielt mich still in einer Ecke auf dem Flur und beobachtete sie. Die Schüler und Schülerinnen tobten und lärmten um mich herum. Frau Pao-leng sprach hier mit einem Schüler, dort mit einem Kollegen, also einem anderen Lehrer. Es war etwas wie ein tiefer Graben zwischen uns. Ich sah die Dame Pao-leng dort stehen – kühl und unnahbar und Autorität ausströmend, und in meine Gedanken schlich sich das Bild von ebenderselben Frau Pao-leng, die hilflos glücklich in meinen Armen liegt in jenem Moment der Verzückung … und daß alle, die hier um sie sind, nichts davon wissen und ahnen, wie die Dame Pao-leng dann aussieht … Was ist ihr wahres Bild? Wohl beides.
Frau Pao-leng stellte mich dem Direktor der Schule vor und erzählte kurz die übliche Erklärung: daß ich ein Mann aus Chi-na sei, zu Studienaufenthalt in Min-chen und so weiter und so fort. Frau Pao-leng verschwand mit einer Schar von Schülern. Der Herr Direktor war sehr erfreut und
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