0711 - Die Psycho-Bombe
Da er kein Geld hatte, stahl er sich alles, was er zum Lebensunterhalt benötigte, zusammen. Einmal hatte er sich einer Gang angeschlossen, war aber sehr schnell wieder geflüchtet, denn er wollte sich nicht schon wieder unterordnen.
Schließlich war er dort gelandet, wo sich auch die erwachsenen Stromer aufhielten. Er hauste in Gartenanlagen, schlief mal im Schatten der Brücken und war schließlich in der glücklichen Lage gewesen, ein aufgegebenes Hausboot zu finden, das allerdings ziemlich runtergekommen war.
Für ihn aber war es das home.
Dort blieb er, dort verkroch er sich, und dort waren auch die Ratten zu seinen Freunden geworden.
Früher hatte er sich vor ihnen geekelt. Wer aber keine anderen Freunde hatte, durfte nicht wählerisch sein.
Die Ratten bekamen von ihm zu essen. Nico teilte seine Beute und freute sich darüber, wenn die Tiere ihre scharfen Zähne in die gestohlenen Äpfel hackten oder das Brot verschlangen, das Nico irgendwo aufgetrieben hatte.
Zwölf Jahre war er und gehörte zu den Kindern, die früh selbständig wurden.
Nicos Mutter hatte es aus dem südlichen Spanien auf die Insel getrieben. Dort war sie hängengeblieben, hatte in einer Bar jemanden kennengelernt, und aus dieser Verbindung war Nico entstanden. Wie seine Mutter hatte er lackschwarzes Haar.
Seine Mutter hatte ihn sehr schnell weggegeben, seinen Vater kannte er überhaupt nicht. Nico wußte nicht einmal, ob er noch am Leben war.
Nico lernte früh, sich durchzusetzen, für sich selbst zu sorgen. Auf keinen Fall wollte er zurück ins Heim, auch dann nicht, wenn der Sommer vorbei war und die kalte Jahreszeit einsetzte. Er würde sich immer verstecken und auch im Winter einen warmen Platz finden. Seine Mutter hatte viel von Spanien gesprochen, daran erinnerte er sich noch genau, und dieses Land übte auf ihn eine magische Anziehungskraft aus. Er wußte auch, daß man es nicht nur mit Flugzeugen erreichen konnte, es fuhren auch Schiffe hin. Als blinder Passagier hatte er eine Chance, das Land seiner Träume zu erreichen.
Er war zwar nicht zweisprachig aufgewachsen, doch einige Brocken Spanisch sprach er schon, denn seine Mutter hatte immer versucht, ihm diese Sprache näherzubringen.
Spanien war ein Traum, ein Wintermärchen. London und das Schiff sowie die Ratten aber waren Realität.
Am Tag hatte er sich in der Stadt herumgetrieben und einige Trödelmärkte abgegrast. Er hatte auch
›Beute‹ gemacht und auf unredlichem Weg einige Scheine an sich genommen.
Manche Menschen waren wirklich zu dumm. Besonders Touristen, die ihr Geld lose und zu offen mit sich herumtrugen. Da brauchte man nicht einmal ein ausgebildeter Taschendieb zu sein, sondern nur einigermaßen geschickte Finger zu haben.
Nico war an diesem Tag sehr zufrieden gewesen und fühlte sich auch irgendwie kaputt, als er nach Einbruch der Dunkelheit sein kleines Domizil am Ufer erreichte.
Das Schiff gehörte ihm. Ihm ganz allein, und er war in gewisser Hinsicht stolz darauf, daß es von keinem anderen Stadtstreicher entdeckt worden war. Es war zu seiner Heimat geworden, zu einem Ort, an dem er sich sichtlich wohl fühlte. Niemand kam ihm da in die Quere, und an die Ratten hatte er sich längst gewöhnt.
Der Kahn war so verfallen, daß er schräg am Ufer eines toten Themsearms lag. Manchmal, wenn es windig war und Wellen vom Fluß her in den Arm hineindrückten, schaukelte das Schiff, was Nico sehr mochte, denn da hatte er stets das Gefühl, weggetragen zu werden. Irgendwohin, den Wolken entgegen, die vom Nordwind in Richtung Süden getrieben wurden. Spanien entgegen.
Im Winter würde er dort sein.
Über einen weichen Steg betrat er seine neue Heimat. Es roch faulig, die Luft war dumpf, sie stand über dem toten Flußarm. Unzählige Insekten wirbelten über der dunkel glänzenden Wasserfläche oder fühlten sich in den beiden Uferregionen wohl, wo die Natur einen dichten Bewuchs geschaffen hatte.
Nico zog den Steg ein und schaute noch einmal in die Runde. Die nächsten standen ziemlich weit entfernt, denn dieser Bereich gehörte zum Überschwemmungsgebiet. Nico brauchte keine Furcht davor zu haben, schnell entdeckt zu werden.
Die Sonne hatte sich in eine rote Orange verwandelt. Es war wieder warm geworden. Die letzten Tage hatten kühlere Temperaturen gebracht, da hatte Nico bereits gefroren und daran gedacht, sich wärmere Kleidung zu besorgen, doch nun zeigte die Augustsonne wieder, wozu sie fähig war. Der Sommer blieb.
Nico ging unter Deck.
Er
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