Bring mich heim
mein Lebensmittelpunkt. Sie war es, welche mich ermutigte, dass ich endlich zu meiner Mutter ging. Sie war es, durch die ich mich lebendig fühlte. Sie war die Starke. Sie war meine Liebe.
Mia musste atmen.
Mia musste leben.
Kapitel 54
Samuel – Ein verdammt beschissenes Jahr
Friedhof, August 2013
Es war das härteste Jahr meines Lebens. Ich musste noch nie derart viel leiden. Ich musste noch nie derart viel Leid sehen.
Ich ging nie wieder aus Graz weg. Wie hätte ich es auch gekonnt? Ich konnte Mias Familie nicht im Stich lassen. Wir litten. Sie war ein Teil von uns. Sie hatte einen riesengroßen Teil von mir. Nein, ich war nicht mehr ganz. Es passierte zu schnell. Niemand war auf diese Situation eingestellt. Niemand dachte sich, dass es so weit kommen würde. Außer Mia ...
Mia wusste es. Sie wusste, dass es irgendwann so weit kommen würde. Nur nicht wann. Sie lief von daheim weg. Unter dem Vorwand, dass Dr. Weiß es ihr geraten hatte. Jedoch wollte sie nie fort von ihrer vertrauten Umgebung. Es machte ihr große Angst, diese Welt zu verlassen. Bis sie vor etwas anderem noch mehr Angst bekam. Die Angst, alles ein weiteres Mal durchstehen zu müssen. Also rannte sie.
Ich sprach mit ihrem Therapeuten. »Warum ist sie weg?«
Seufzend sagte er: »Ich dachte, sie ging endlich meinem Rat nach. Dieser Abstand hätte ihr gutgetan.«
»Er tat ihr gut«, unterbrach ich ihn. Der Gedanke an die lachende Mia brachte mich zum Schmunzeln.
Nickend redete er weiter: »Mia wollte zu allererst nicht. Ich sprach sie auch nicht wieder darauf an. Denn mittlerweile wusste ich, dass bei ihr manche Situationen Geduld erforderten, bis ich zu ihr vordringen konnte. Sie benötigte Bedenkzeit.« Der Therapeut schien kurz nachzudenken. »Einen Monat später stürmte sie herein. Platzte auf der Stelle mit der Neuigkeit heraus. Sie war nie besonders gesprächig. Vielleicht hätte ich da bereits besser aufhorchen müssen. Sie erzählte aufgeregt, dass sie weg wollte. Dass sie Abstand benötigte. Sie sagte, dass sie es jetzt einsah, dass sie ihr Leben führen musste. Und auch ihre Familie wieder ein eigenes.« Dr. Weiß sah mich mit einem Blick voller Leid an. »Ich hätte es wissen müssen.«
»Das konnten Sie nicht«, antwortete ich traurig.
Mia verschwieg diese neue Diagnose allen. Jeder bekam nur einen Teil zu hören. Exakt diesen Part, um zu denken, dass es ihr gut ging. Ich dachte es tatsächlich. Sie wirkte glücklich. Vielleicht genau deshalb. Sie wollte ein letztes Mal leben. Ihre Ängste überwinden und einfach nur unbeschwert leben. Sie hatte es für knappe drei Wochen. Ich durfte ein Teil davon sein.
Dennoch war ich wütend auf Mia. Sie ließ uns im Glauben, dass es ein Happy End gab. Ich war verärgert, dass sie mich blind in diese Situation hineinlaufen ließ. Eine Sorge war nicht genug. Aber zu Beginn wusste sie noch nichts von meiner Mutter. Diese Wut brachte nichts weiter.
Ach, verdammt ... ich hätte es wissen müssen. Es gab diese Sätze, welche es andeuteten. Ich verstand sie nur nicht richtig.
Dieser Schmerz riss mich auseinander. Bis ich mir dir Schuld daran gab, dass ich sie besser hätte deuten sollen. Jedoch wie? Dafür kannte ich sie zu wenig. Nicht einmal ihre Eltern bemerkten eine Veränderung. Mia überspielte ihre Gefühle. Verdrängte sie oder was auch immer.
An all dem war niemand schuld. Mia hatte es geplant. Sie hatte nur nicht eingeplant, eine weitere Person darin zu verstricken. Mich ...
Mia im Krankenhaus zu sehen war schwer. Sie lag einfach nur da. Ein Beatmungsgerät hing an ihr. Ich könnte kotzen, wenn ich mir das ansah. Hilflos. Meine Kleine war hilflos. Hoffentlich ohne Schmerzen. Sie durfte keine haben. Ich wusste noch nicht mal, ob sie zuvor welche hatte. Jedoch ging es ihr nicht gut. Ihr Zustand war sehr kritisch. Die Entfernung des Tumors verlief gut. Nur nicht danach. Sie wurde in einen Tiefschlaf versetzt, weil ständig irgendwelche Viren und Bakterien ihren Körper plagten. Sie konnte sich nicht erholen. Wir mussten zusehen, wie sie von Tag zu Tag schwächer wurde. Die Ärzte bereiteten die Familie und mich auf das Schlimmste vor.
Mias Mutter und ich blieben meist den gesamten Tag an ihrem Bett. Es gab Tage, an denen wir miteinander weinten. Es gab Tage, an denen wir einfach nur schwiegen. Wir lauschten dem Piepen der Monitore, welche sie bei Tag und Nacht überwachten.
»Samuel, ging es ihr gut?«, fragte sie mich einen Nachmittag. Ich wandte meinen Blick von Mia ab. »Ging
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