Nayla die Loewin
Talon Nummer 19
„Nayla, die Löwin“
von
Thomas Knip
1.
Zuerst hatte er geglaubt, seinen Augen nicht trauen zu können. Vielleicht hatte er auch nur gehofft, dass es nicht mehr als ein Lichtreflex im Schein der frühen Morgensonne war. Licht, das sich auf einer kühlen, taubedeckten Oberfläche brach und in verschiedenen Facetten schillerte.
Doch es war die Oberfläche selbst, die aus sich heraus zu leuchten begann, sobald sie vom Licht der Sonne gestreift wurde und sich leicht bewegte, waberte, beinahe flüssig wirkte. Als würde die Luft vor Hitze flirren und die Umgebung verzerren.
Das Leuchten wurde intensiver. Kleine Lichter schienen über den roten Lack des rostigen Metalls des Kofferraumdeckels zu tanzen, wie Sandkörner, die über den Boden getrieben wurden.
Talon blickte sich um. Das Leuchten umgab ihn wie Myriaden von Glühwürmchen. Es erstrahlte in einer Vielzahl von Ecken und wirbelte durch die Luft, als würde es von einem wütenden Sturm mit sich getragen.
Das Atmen fiel ihm mit jedem verstreichenden Augenblick schwerer. Er fühlte sich, als würde etwas tief in ihn eintauchen und an ihm zerren. Als versuche etwas, einen Teil aus ihm herauszureißen und mit sich zu tragen. Augenblicke lang fiel es Talon schwer, sich zu konzentrieren. Die unausgesprochenen Gedanken schienen zu zerfasern und zu verblassen, noch bevor er sie beenden konnte. Erst allmählich ließ dieses Gefühl der Ohnmacht nach.
Ein Gefühl der Beklemmung überkam ihn. Der Tanz der Lichtfetzen um ihn herum hatte sich nur wenig verändert. Viele von ihnen sanken zu Boden und erloschen, sobald sie die ausgedorrte Erde berührten. Andere jedoch wirbelten durch die Luft und schienen einer vorgegebenen Richtung zu folgen, die tief im Südwesten lag.
‚In Richtung des Dschungels’, formte sich die Überlegung nur unwillig in Talons Kopf. ‚Dort, wo der Tempel liegt.’
Das unwirkliche Spiel dauerte noch wenige Minuten, dann verebbte es allmählich. Zurück blieb ein verlassenes Dorf, das schien, als sei es vor Jahrhunderten aufgegeben worden. Nur die Relikte der modernen Zeit erinnerten noch daran, dass er sich in der Gegenwart befand.
Doch genau all jene Gegenstände, die daran erinnerten, dass dieses Dorf keine archäologische Stätte war, verloren mehr und mehr an Substanz. Talon sah hoch und betrachtete sich das lang gezogene Schild der Tankstelle, die am Ortseingang etwas abseits der anderen Häuser stand. Früher einmal hatte das schlichte Oval einer Neonröhre die durch Wind und Sand blass gescheuerte Schrift auf dem Schild umrahmt. Doch nun war von der Leuchtstoffröhre kaum mehr als die Hälfte vorhanden, wie von dem Schild selbst, auf dem sich noch schwach das Wort ‚Gas’ entziffern ließ.
Die Röhre sah jedoch nicht so aus, als sei sie zerstört worden. Es schien vielmehr so, als würde sie nach und nach aufgezehrt. Die offenen Enden hingen durchscheinend in der Luft. Selbst das massive Schild wirkte eher wie ein dünner Stoff, der das Licht hindurch ließ. Fast glaubte Talon, den Schatten der Bäume durch die emaillierte Oberfläche scheinen zu sehen.
Die letzten Lichter waren verschwunden oder nur noch in der Ferne als stille Reflexe im dunstverhangenen Himmel zu erkennen. Langsam und gleichmäßig atmete Talon durch. Sein Blick klärte sich wieder. Er fühlte sich, als erwache er endgültig aus einem Traum, bei dem er die ganze Zeit die Augen geöffnet hatte.
Ein Teil von ihm ahnte, was hier geschah. Dennoch erschien es ihm viel zu unglaublich, als dass er endgültig bereit gewesen wäre, den Gedanken zu akzeptieren. Seit gestern schien es ihm, als habe er eine unsichtbare Grenze durchschritten und befinde sich nun in einer Region, die nicht mehr zu dem Land dazugehörte, das es umgab.
Nach seiner Flucht aus Ibn Saids Sklavenlager war er zusammen mit Nisheki, der jungen Sudanesin, nach Süden gezogen. Sie hatten sich abseits der Hauptstraßen gehalten, um weder den Milizen noch irgendwelchen versprengten Einheiten in die Hände zu fallen. Talon wollte die junge Frau in ihr Dorf zurückbringen. Und je länger sie zusammen unterwegs waren, desto unwirklicher war ihm der Gedanke erschienen, mit ihr zusammen zu leben. Ihm war nicht wirklich klar geworden, wie sie zu dieser Frage stand. Doch das betont sachliche Verhältnis, das ihm Nisheki entgegenbrachte, zeigte ihm, dass es wenig Sinn machte, diesen Punkt anzusprechen.
Er hatte ihr deutlich zu verstehen gegeben, dass er für eine gemeinsame Zukunft
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