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Brodecks Bericht (German Edition)

Brodecks Bericht (German Edition)

Titel: Brodecks Bericht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philippe Claudel
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Einige Leute sagen, wichtige Entscheidungen würden dort getroffen, Bündnisse geschlossen und Versprechen gegeben. Andere vermuten, dass sie sich nur ordentlich einen hinter die Binde gießen, Dame oder Karten spielen, rauchen und Witze erzählen. Einige behaupten, sie hätten durch die Tür Musik gehört. Vielleicht wüsste der Lehrer Diodème mehr zu berichten, denn der hat immer viele Bücher gewälzt und alle ausgefragt, weil er so neugierig war. Aber der Arme weilt nicht mehr unter uns und kann folglich nichts mehr erzählen.
    Ich gehe fast nie ins Gasthaus, weil ich mich zugegebenermaßen bei Dieter Schloss nicht wohl fühle. Er hat einen hinterhältigen Maulwurfsblick, seine Stirn scheint ewig schweißnass, sein kahler Schädel glänzt rosig, und seine Zähne sind braun und riechen übel. Außerdem meide ich überhaupt Gesellschaft, seit ich aus dem Krieg zurückgekehrt bin. Ich habe mich an die Einsamkeit gewöhnt.
    Aber an jenem Abend hatte die alte Fédorine mich ins Gasthaus geschickt, um Butter zu kaufen, die ihr zum Keksebacken fehlte. Normalerweise erledigt sie ihre Einkäufe selbst, aber an jenem düsteren Abend hatte meine kleine Poupchette hohes Fieber, und Fédorine saß an ihrem Bett und erzählte ihr die Geschichte von Bilissi, dem armen Schneider, während Emélia, meine Frau, neben ihnen leise ihr Lied vor sich hin summte.
    Seitdem habe ich oft über die Butter nachgedacht, das kleine Stück Butter, das in der Speisekammer fehlte. Sonst macht man sich nicht klar, von welchen Nichtigkeiten der Lauf des Lebens abhängen kann: von einem Stück Butter, davon, ob man den einen oder den anderen Weg einschlägt, ob man einem Schatten folgt oder lieber vor ihm flieht, ob man eine Amsel erschießt oder sie am Leben lässt.
    Poupchette mit ihren schönen, fiebrig glänzenden Augen hörte der alten Frau zu. Es war die Stimme, der auch ich einmal gelauscht hatte, und auch damals, als ich noch ein Kind war, hatten ihr schon einige Zähne gefehlt. Poupchette sah mich an, ihre Wangen waren dunkelrot wie Blaubeeren. Sie lächelte, streckte die Hände nach mir aus und schnatterte wie ein Entlein: «Papa, komm zurück, mein Papa, komm zurück!»
    Ich ging hinaus, im Ohr noch das Zwitschern meines Kindes und das Murmeln der alten Fédorine:
    Bilissi sah vor der Schwelle seiner Hütte drei Ritter, deren Rüstungen mit der Zeit ganz weiß geworden waren. Alle drei hielten eine rote Lanze und einen silbernen Schild. Ihre Gesichter und Augen waren unsichtbar. So ist es oft, wenn alles zu spät ist.

2
    Die Nacht hatte ihren Mantel über das Dorf gebreitet wie ein Fuhrmann, der sein Cape über die restliche Glut im Kamin wirft. Die Schornsteine auf den mit langen Holzschindeln gedeckten Dächern stießen träge blaue Rauchfahnen aus; sie sahen aus wie die schuppigen Rücken von Urtieren aus grauer Vorzeit. Langsam wurde es kalt, es war immer noch recht mild, aber nach dem langen Sommer und der Wärme der ersten Septembertage hatte ich vergessen, was Kälte war. Ich erinnere mich noch, dass ich zum Himmel aufschaute und beim Anblick der vielen Sterne, die sich wie verängstigte Vogeljunge aneinanderdrängten, dachte, dass es wohl bald, von einem Tag auf den anderen, Winter werden würde. Bei uns dauert der Winter lange, nicht enden wollende Monate lang, und in dieser Zeit ist unser weites Tal mit den im Schnee versunkenen Wäldern wie ein Gefängnis.
    Als ich das Gasthaus betrat, waren sie alle dort, fast alle Männer unseres Dorfes, und ihre Gesichter waren versteinert und düster, sodass ich augenblicklich ahnte, was geschehen war. Orschwir schloss die Tür hinter mir. Er zitterte leicht. Seine großen blauen Augen sahen mich an, als sähen sie mich zum ersten Mal.
    Mein Magen zog sich zusammen, ich hatte das Gefühl, dass mein Herz aussetzte, und ich fragte mit schwacher Stimme, während ich zur Zimmerdecke aufsah, weil ich mir das Zimmer des Anderen sowie ihn selbst vorstellte, mit seinen Koteletten, seinem dünnen Schnurrbart, seinen spärlichen, gekräuselten Haaren, die an den Schläfen abstanden, seinem dicken Kopf, der an ein wohlgenährtes, braves Kind erinnerte, und ich fragte also: «Ihr habt ihn doch wohl nicht …?» Diese Frage, wohl eher eine Klageruf, formten meine Lippen wie von selbst.
    Orschwir packte mich an den Schultern, mit seinen Händen, die so breit sind wie die Hufe eines Maultiers. Sein Gesicht war noch violetter als sonst, und an seiner pockennarbigen Nase lief ganz langsam ein winziger,

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