Brodecks Bericht (German Edition)
sehen, außer vielleicht ein- oder zweimal an einem jener seltenen schwülen Sommerabende, wenn kein kühlendes Lüftchen mehr durch die Straßen des Dorfes weht.
Göbbler ist über sechzig, hat ein grob geschnittenes Gesicht, lächelt nie und spricht wenig. Ein weißer Schleier liegt über seinen Augen, und er kann kaum fünf Meter weit sehen. Während des Krieges ist er wieder ins Dorf zurückgekehrt, nachdem er jahrelang in S. ein Amt bekleidet hatte, in einer Verwaltung, wie man sagt, aber keiner weiß genau, in welcher, und ich glaube nicht, dass ihn irgendjemand danach gefragt hat. Jetzt lebt er von seiner Rente und dem, was sein Federvieh ihm einbringt, dem er übrigens mittlerweile ein bisschen ähnlich sieht. Seine Augen bewegen sich so hektisch wie die der Hühner, und die schlaffe Haut an seinem Hals ist rot. Seine Frau ist jünger als er und heißt Bulla. Sie ist dick und redselig und riecht nach Getreide und Zwiebeln. Angeblich brennt es zwischen ihren Schenkeln wie Feuer, und viele Eimer Wasser sollen nötig sein, um diese Glut zu löschen. Sie rennt den Männern hinterher wie andere dem Sinn des Lebens.
«Du bist früh unterwegs», sprach er weiter. «Wohin gehst du denn?»
Dies war das erste Mal, dass Göbbler mir eine Frage stellte. Ich zögerte und brachte kein Wort heraus. Mit der Spitze seines Stocks stieß Göbbler leicht gegen eine Schnecke, die langsam in seine Richtung kroch, und drehte sie um. Sie war klein und hübsch, hatte ein schwarz-gelb geringeltes Haus und einen dünnen Körper mit zarter Zeichnung. Die überraschte Schnecke zögerte kurz, bevor sie ihren Körper und die feinen Fühler in ihr Haus zurückzog. Da hob Göbbler seinen Stock und ließ ihn auf das Tierchen herunterfahren, das zerplatzte wie eine Nuss.
«Pass auf dich auf, Brodeck …», flüsterte er dann und starrte auf das Häuflein hellbraunen, schaumigen Matsch, das von der Schnecke übrig war.
«Pass auf, es hat schon genug Unheil gegeben …», sagte er noch.
Sein Blick wanderte wieder zu mir herüber, er verzog seinen Mund zu einem Lächeln. Zum ersten Mal sah ich ihn wirklich lächeln und bemerkte seine grauen Zähne, die aussahen, als ob er sie an langen Winterabenden spitz gefeilt hätte. Ich gab keine Antwort. Fast hätte ich die Achseln gezuckt, hielt mich aber zurück. Ein Schauder lief mir über den Rücken. Ich zog mir die Mütze tiefer über die Ohren, drückte die Ohrenklappen an meine Schläfen und ging weiter und sah mich nicht mehr um. Meine Stirn war schweißnass. Einer seiner Hähne krähte, dann stimmten alle anderen ein. Das Geschrei klirrte in meinen Ohren. Windböen wehten aus dem Tal herauf, wirbelten um mich herum. Es roch nach Harz, Bucheckern, Nebel und nassem Fels.
In unserer Hauptstraße, der Püppensaltzstraße , streunte der alte Ohnmeist von Tür zu Tür. Der Hund heißt so, weil er kein Herrchen hat und auch nie eines haben wollte. Er ist etwas Besonderes. Er ist genügsam, meidet andere Hunde und Kinder und bettelt unter den Küchenfenstern um Futter. Manchmal begleitet er jemanden auf die Felder oder in den Wald. Er schläft unter freiem Himmel oder kratzt an den Scheunentoren, wenn es zu kalt ist, wo man ihm gerne ein wenig Heu zum Schlafen und Futter gibt. Er ist ein brauner Rüde mit roten Flecken, groß wie ein Vorstehhund, aber sein Fell ist kurz und dicht wie das einer Bracke. Bestimmt ist sein Blut aus vielen Rassen gemischt, aber man muss sich schon sehr gut auskennen, wenn man sagen will, aus welchen. Als er auf mich zukam und an mir schnüffelte, fiel mir ein, dass er bei seiner ersten Begegnung mit dem Anderen ein paarmal kurz und freudig gebellt und mit dem Schwanz gewedelt hatte. Der Andere war stehengeblieben, hatte seine feinen, weichen Lederhandschuhe ausgezogen und dem Tier über den Kopf gestreichelt. Die beiden waren ein merkwürdiger Anblick: der sanftmütige, glückliche Hund, der sich das Streicheln brav gefallen ließ, obwohl ihm sonst keiner von uns zu nahe kommen und ihn schon gar nicht berühren durfte, und der Andere , der den Hund mit bloßer Hand liebkoste und ihn ansah, als ob es sich um einen Menschen handelte.
An jenem Morgen aber glänzten die Augen des Tieres, sein Blick war verstört. Der Hund ging eine Weile neben mir her und stieß von Zeit zu Zeit einen kurzen Klagelaut aus. Er ließ den Kopf hängen, als ob er ihm plötzlich zu schwer geworden oder als ob er mit zu vielen traurigen Gedanken beschäftigt wäre. In der Nähe des
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