Brodecks Bericht (German Edition)
die Augen. Ihre Lider waren geschlossen. Sie sah ruhig aus. Sie ist so schön, dass ich mich oft frage, womit ich es verdient habe, dass sie sich eines Tages ausgerechnet für mich interessierte. Ihr habe ich zu verdanken, dass ich damals nicht gestorben bin. Während meiner Zeit im Lager habe ich immer nur an sie gedacht.
Die Männer, die uns dort bewachten und prügelten, schrien uns an, wir seien nichts als Abschaum, der letzte Dreck. Wir durften ihnen nicht in die Augen blicken, sondern mussten den Kopf gesenkt halten und ihre Schläge ohne Widerworte ertragen. Abends gaben sie die Suppe, die für uns bestimmt war, in die Näpfe ihrer Hunde, Doggen mit honigfarbenem Fell, hängenden Lefzen und tränenden, blutunterlaufenen Augen. Wir mussten auf allen vieren gehen, wie die Hunde, und nur mit dem Mund unser Futter fressen. Wie die Hunde.
Die meisten, die mit mir im Lager waren, haben sich geweigert und sind gestorben. Ich habe wie ein Hund gefressen, auf allen vieren und nur mit dem Mund. Ich lebe noch.
Manchmal, wenn die Aufseher betrunken waren oder nichts zu tun hatten, trieben sie mit mir ihre Spielchen. Dann legten sie mir ein Halsband und eine Leine an, und ich musste Männchen machen, mich drehen, bellen, hecheln und ihre Stiefel ablecken. Die Aufseher nannten mich nicht mehr Brodeck, sondern Hund Brodeck und lachten über ihren Witz. Die meisten anderen Gefangenen weigerten sich, den Hund zu spielen, und starben. Sie verhungerten oder wurden von den Aufsehern totgeprügelt.
Seit langem schon sprachen die anderen Gefangenen nicht mehr mit mir. «Du bist schlimmer als diese Männer, du bist ein Tier, du bist ein Stück Dreck, Brodeck!» Immer wieder sagten sie mir, was mir auch die Aufseher sagten: dass ich kein Mensch mehr sei. Sie alle sind heute tot. Alle. Aber ich lebe. Vielleicht gab es nichts, was sie am Leben erhielt? Vielleicht hatten sie keine Geliebte, weder zu Hause in den Dörfern noch in ihrem Herzen? Ja, vielleicht hatten sie nichts, weshalb das Leben sich gelohnt hätte.
Nachts banden die Aufseher mich an einen Pflock, neben der Hütte für die Doggen. Ich schlief im Staub auf dem nackten Boden, ich konnte die Hunde riechen, das Fell, ihren Atem, den Urin. Über mir war nur der Himmel. Etwas entfernt standen die Wachtürme, und noch weiter entfernt ahnte ich das Land, die Felder, auf denen der Weizen ungerührt im Wind wogte, die Wipfel der Birkenwäldchen, und ich hörte das Rauschen des silbrigen, breiten Flusses, der ganz in der Nähe vorbeifloss.
Ich aber war weit weg von alldem. Ich war nicht an einen Pflock gebunden. Ich trug kein Lederhalsband und lag nicht halbnackt neben den Doggen. Nicht mehr im Schmutz lag ich, sondern in unserem Haus, in unserem Bett, dicht an Emélias weichen Körper geschmiegt. Ich hatte es schön warm und spürte ihr Herz an meinem Herzen schlagen. Ich hörte ihre Stimme, wie sie die zärtlichen Worte sprach, die ihr in der Dunkelheit unseres Schlafzimmers immer in den Sinn kamen. Deshalb bin ich zurückgekehrt.
Hund Brodeck ist lebendig nach Hause zurückgekehrt, zu seiner Emélia, die auf ihn wartete.
4
Am Morgen nach dem Ereignis bin ich sehr früh aufgestanden. Ich rasierte mich, zog mich an und ging geräuschlos aus dem Haus. Poupchette und Emélia schliefen noch, während Fédorine auf ihrem Stuhl döste und manchmal etwas vor sich hin murmelte. Sie sagte sinnlose, unzusammenhängende Worte, ein merkwürdiges Geplapper aus vielen Sprachen.
Das Morgenlicht war gerade erst am Rand des Himmels zu sehen, und das ganze Dorf schlief noch tief und fest. Ganz leise schloss ich die Tür. Auf dem Gras lag milchiger Tau, der von den Kleeblättern tropfte. Es war kalt. Die Gipfel der Prinzhorni sahen noch höher und spitzer aus als sonst. Das bedeutete, dass das Wetter umschlug und nun auch der Schnee nicht mehr lange auf sich warten ließ; bald würde sich eine dichte Schneedecke über das Dorf legen und es noch unzugänglicher machen, als es ohnehin schon war.
«Guten Morgen, Brodeck!»
Ich zuckte zusammen wie jemand, den man bei etwas ertappt hatte. Obwohl ich genau wusste, dass ich nichts Falsches getan und mir nichts vorzuwerfen hatte, sprang ich hoch wie ein Zicklein, das der Ziegenhirte mit seiner Rute züchtigen will. Zunächst hatte ich die Stimme nicht erkannt: Es war Göbbler, unser Nachbar.
Er saß auf der steinernen Bank an der Mauer seines Hauses und stützte sich auf den Stock in seiner Hand. Noch nie hatte ich ihn auf dieser Bank sitzen
Weitere Kostenlose Bücher