Bruderdienst: Roman (German Edition)
»Wie kommst du dorthin?«
»Aber das habe ich dir doch erzählt. Tante Gerlinde lebt in Rostock. Bei der war ich ein paar Tage. Dann bin ich losgefahren, mir Rügen anzusehen. Man muss was tun in meinem Alter.«
Er wusste nicht, wer diese Tante war, er erinnerte sich an keine Tante Gerlinde. »Und wie ist es dort so?«
»Fantastisch, sage ich dir, ganz fantastisch, Junge. Warst du auf dem Friedhof?«
»Ja, war ich. Am vergangenen Freitag. Ich habe eine Blumenschale auf Papas Grab gestellt. Sieht hübsch aus. Wann kommst du nach Berlin zurück?«
»Vorerst nicht«, jubelte sie freudetrunken. »Wir haben eine Pension mit akzeptablen Preisen gefunden und gehen jeden Tag am Strand spazieren.«
»Wer ist wir, Mama? Tante Gerlinde und du?«
»Ach, Tante Gerlinde doch nicht«, antwortete sie in leichter Empörung. »Ich rede von Harry.«
»Aha. Und wer ist Harry?«
Eine Sekunde für den Anlauf. »Einfach ein wunderbarer Mensch, Junge. Wirklich. Und so ungeheuer feinfühlig.«
»Das freut mich aber«, sagte Müller sehr zurückhaltend. »Ich nehme an, du hast ihn auf Rügen kennengelernt.«
»Nein, in Flensburg.« Dann wurde sie verschwörerisch. »Stell dir vor, er hat mich regelrecht verfolgt. Von Flensburg nach Rostock und dann bis auf die Insel. Aber ganz unaufdringlich, also kein bisschen vulgär. Er sagt, er ist aus dem Alter raus, in dem man wissen will, wie schnell man eine Frau ins Bett kriegt.« Sie kicherte wie ein Schulmädchen.
»Das ist ja wunderbar, Mama. Und wie alt ist er?«
»Stell dir vor, genauso alt wie ich. Zusammen sind wir einhundertzweiundvierzig, sagen wir immer.«
»Das freut mich für dich«, stellte er tonlos fest.
»Weshalb ich aber eigentlich anrufe, Junge, das ist das Haus. Ich meine unser Haus in Berlin. Harry hat gesagt, davon hätte ich doch nichts. Also, nichts von einem Haus in Berlin. Und ich finde, er hat eigentlich recht. Was meinst du, soll ich es verkaufen? Du willst es ja doch nicht haben. Hier an der Ostsee ist es so herrlich, und da könnte ich das Geld doch gut gebrauchen. Da reicht ja auch eine Eigentumswohnung hier auf Rügen oder so was in der Art.«
»Das Haus gehört dir«, äußerte Müller zurückhaltend. »Du kannst damit machen, was du willst, Mama.«
»Deswegen rufe ich dich ja an, Junge. Was meinst du, kannst du dich mal mit einem Immobilienmakler in Verbindung setzen? Kannst du das für mich tun, mein Lieber?«
»Wenn du das willst, tue ich das, Mama.«
»Dass man mal einen ungefähren Anhaltspunkt hat, was so ein Haus bringen kann«, plapperte sie weiter. »Muss ja auch nicht heute sein, kann morgen oder übermorgen sein. Nur dass ich ungefähr weiß, womit ich rechnen kann. Du verstehst das schon, Junge.«
»Ja, das verstehe ich«, sagte Müller. »Aber wäre es nicht besser, du kommst mit diesem Harry zusammen hierher? Dann könnt ihr das doch viel gründlicher erledigen. Du weißt doch, ich habe wenig Zeit.«
»Ich bitte dich doch nun weiß Gott selten um irgendetwas.« Ihre Stimme wurde weinerlich. »Und Harry hat mir heute noch mal gesagt, er macht sich nichts aus Berlin, er will auf keinen Fall nach Berlin.«
»Ja«, murmelte er resigniert. »Ich frag mal bei der Bank nach.«
»Also, das ist aber lieb von dir, mein Junge.«
Er wollte noch sagen: »Viel Spaß mit Harry«, aber das kam ihm dann doch irgendwie komisch vor. Stattdessen sagte er: »Ich muss ins Amt, Mama. Mach es gut. Und melde dich wieder.«
Er versuchte, sich seine Mutter mit einem gewissen Harry im Bett vorzustellen. Es gelang ihm nicht, allein der Gedanke erschien ihm grotesk. Ihm fiel ein, was sein Vater vor langer Zeit einmal zu ihm gesagt hatte: »Deine Mutter lebt in einer ganz eigenen Welt.«
Als er den letzten Tropfen Whisky trank, wurde ihm auf einmal klar, dass er erschreckend wenig von seinen Eltern wusste. Er empfand einen Anflug von Trauer.
ZWEITES KAPITEL
Es war Nachmittag, als Krause sich mit Klaus Esser zusammensetzte, der sich im BND wahrscheinlich am besten mit Nordkorea auskannte. Er war, wie auch Sowinski, längst über die Neuigkeiten informiert worden.
Esser, der Leiter eines ganzen Heeres unterschiedlicher Fachleute von Sprachspezialisten über Politologen bis hin zu Waffenexperten, war ein ruhiger Mann, der auch in hektischen Diskussionen niemals laut wurde. Seine stärkste Waffe war eine leise Bestimmtheit, mit der er jedermann zwang, ihm genau zuzuhören. Er hatte wie üblich keinerlei Unterlagen bei sich – er hatte Nordkorea im Kopf.
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