Bruderdienst: Roman (German Edition)
himmlisch«, säuselte Goldhändchen. »Irgendwie fesselnd, nicht wahr?«
Auf dem Flur atmete Krause ein paarmal tief durch, rief dann in seinem Sekretariat an und teilte mit, dass er für die nächste halbe Stunde nicht erreichbar sei. Er ging auf den Gardeschützenweg hinaus und trieb wie ein welkes Blatt im November an der roten Backsteinfront entlang. Sein Gesicht wirkte faltig und grau, und unter seinen Augen lagen dunkle Ringe wie bei jemandem, der Probleme mit dem Herzen hat. Er dachte an seine Frau, und er dachte an die Möglichkeit, dass sie sterben könnte. Er dachte ihren Namen wie ein Stoßgebet, er dachte: Waltraud, Waltraud, Waltraud. Und er hörte sie antworten: Das kommt schon wieder in Ordnung, das kriegen wir in den Griff, mein Lieber. Wie immer.
Müller wusste nun, dass er Anna-Maria am Wochenende nicht würde sehen können, und wollte es so schnell wie möglich hinter sich bringen. Er rief seine Exfrau an und sagte: »Ich bin es, wie geht es bei euch?«
»Alles im grünen Bereich«, antwortete sie wie immer sehr neutral.
»Hör zu, ich habe ab sofort Bereitschaftsdienst, Anna-Maria kann also nicht herkommen. Ich muss rund um die Uhr verfügbar sein.«
Ihre Stimme wurde augenblicklich quengelig. »Das ist jetzt das dritte Mal, dass du absagst, und sie hat sich so gefreut.«
»Es geht nicht«, sagte er. Sie prügelte ihn häufig mit dem Satz: Sie hat sich so gefreut. Und es ärgerte ihn, dass es immer funktionierte. »Vielleicht kann Volker etwas mit ihr unternehmen?« Volker war ihr Neuer, präzise: ihr dritter Neuer, seit sie geschieden waren.
»Also, Volker kann auch nicht immer, und wir wollten endlich mal an die Müritz. Und überhaupt kümmert Volker sich schon genug. Im Gegensatz zu dir.«
»Dann grüß ihn bitte und sag ihm, er sei ein feiner Kerl und ich wäre ihm von Herzen dankbar.« Damit beendete er das Gespräch.
Er ließ sich rücklings auf das Bett fallen und starrte an die Decke seiner Einraumwohnung. Hier ist nichts von mir, dachte er. Hier werde ich auf Dauer verrückt. Wieso habe ich nicht längst eine andere Wohnung, irgendetwas, das ich mir selbst einrichte? Er erinnerte sich, dass er vor Wochen Svenja mit hierher genommen hatte. Er wollte sich nur schnell ein anderes Hemd anziehen. Sie hatte in diesem Raum gestanden, sich umgeschaut und mit einem sichtbaren Schrecken begriffen … ja, was eigentlich? Dass er verluderte, dass er sozial abrutschte?
»Das war einmal eine sichere Wohnung des Dienstes«, hatte er ihr erklärt. »Das ist billig, und mehr brauche ich nicht.«
Sie hatte mit bestürzender Offenheit erwidert: »Also, das hier … das könnte ich nicht ertragen.« Dann hatte sie sich zu ihm umgewandt und ruppig gesagt: »Mach schnell!« Der Zauber des Tages war auf einen Schlag zerstört gewesen, und in den Stunden danach hatte sie ihn immer wieder angesehen, als sei er ihr vollkommen fremd.
»Ich verkomme«, sagte er in die Stille hinein. »Ich habe, verdammt noch mal, keine Bleibe.«
Dann stand er auf und goss sich einen beachtlichen Schluck Whisky ein. Er wollte Svenja anrufen, ließ es aber, weil sie abwehrend geäußert hatte, sie wolle Besorgungen machen, die Wohnung putzen, ihre Spesenabrechnungen nachholen und vielleicht etwas über Nordkorea lesen.
Der Ficus geriet in sein Blickfeld, ein besenartiges Gewächs, das er gekauft hatte, um dem Raum einen Hauch von Wohnlichkeit zu verleihen. Das war jetzt weit länger als ein Jahr her. Die Pflanze war inzwischen vertrocknet und ähnelte all den muffigen, verstaubten Rosensträußen, die manche Frauen auf ihren Schränken platzieren, um die Erinnerung an irgendein großartiges, vergangenes Ereignis zu bewahren. Er trat mit aller Wucht gegen den tönernen Topf, der mit einem leisen Knacken zerbarst. Der tote Ficus blieb stehen, als wäre er unbesiegbar. Er nahm die Pflanze und stellte sie auf den Balkon, der diesen Namen eigentlich nicht verdiente, weil nicht einmal eine Liege Platz darauf hatte und die Sonne den kleinen Fleck niemals erreichte.
Sein Telefon klingelte, und er hoffte insgeheim, dass er zu irgendeinem Einsatz gerufen wurde. Aber es war seine Mutter, die mit vor Aufregung schriller Stimme sagte: »Junge, wie schön, dass du zu Hause bist. Ich will mich nur mal melden.«
»Das ist aber eine Überraschung. Wie geht es dir denn, und wo bist du?«
»Ich bin auf Rügen, Junge, auf der Insel Rügen. Und wir haben herrliches Wetter.«
Er wollte fragen: Wer ist wir? Stattdessen fragte er:
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