Bruderherz
sicher, dass er lächelte und hoffte, mich zu beeindrucken. Ich überlegte, ob er wieder gutmachen wollte, dass er mich beinah umgebracht hätte. Wenn wir uns als Kinder gestritten hatten, hatte er anschließend jedes Mal versucht, meine Zuneigung mit Geschenken, Komplimenten oder wie in diesem Fall mit etwas Leckerem zurückzugewinnen. »Willst du einen Drink?« Großer Gott, ja!
Ich drehte mich um und schaute zu ihm auf. »Ein Jack Daniels wäre gut, falls du einen hast.«
Er ging wieder zurück in die Hütte und kehrte mit einer ungeöffneten Halbliterflasche dieses gesegneten Tennessee Whiskeys zurück. Für mich der beste Moment des Tages; dieses kleine Stück Heimat ließ mein Herz höher schlagen. Ich öffnete die schwarze Verschlusskappe und trank einen großen Schluck, schloss die Augen und ließ den herben Eichengeschmack meine Kehle hinabbrennen. In dieser Sekunde, mit dem Feuer des Whiskeys im leeren Magen, hätte ich auch auf meinem Bootssteg sitzen können, allein, um mich beim Anblick des fantastischen Sonnenuntergangs in Carolina zu besaufen.
Ich hielt Orson die Flasche hin, doch er lehnte ab. Stattdessen ging er um eine Ecke der Hütte herum und kam mit einem Grill zurück. Nachdem er die Kohle angezündet hatte, ging er hinein und brachte einen Teller mit zwei lächerlich dicken, roten Rinderfilets, fertig gesalzen und gepfeffert, heraus. Er hielt mir den Teller hin und sagte: »Gieß etwas Whiskey über das Fleisch.«
Ich tränkte sie mit der vergorenen Maische, und Orson schob die Lendenstücke auf den Grill, wo sie sofort für einige Sekunden von Flammen umgeben waren. Er kam zu mir herüber und setzte sich neben mich, und während der Whiskey mich leicht benebelte, lauschten wir wie alte Freunde dem Brutzeln der Steaks und beobachteten den nun roten Sonnenuntergang.
Als die Steaks fertig waren, nahmen wir unsere Teller mit auf die vordere Veranda, auf der an der einen Seite ein wackliger Tisch stand. Orson zündete mit einem silbernen Feuerzeug zwei Kerzen an und wir verspeisten schweigend unser Abendessen. Während ich ihm so gegenübersaß, musste ich unaufhörlich denken: Du bist nicht das Monster, das ich letzte Nacht in der Wüste gesehen habe. Deswegen sitze ich hier ohne zu zittern oder zu weinen, denn irgendwie ist mir klar, das kannst du nicht sein. Du bist einfach Orson. Mein Bruder. Mein blauäugiger Zwilling. Ich sehe dich als Jungen, als süßen, harmlosen Jungen. Nicht als dieses Wesen in der Wüste. Nicht als diesen Dämon.
Doch als die letzten flachen Sonnenstrahlen hinter dem purpurroten Horizont verschwanden, überkam mich ein unheilvolles Gefühl. Das Licht hatte mir ein Gefühl der Kontrolle verliehen, doch nun, in der Dunkelheit, fühlte ich mich erneut schutzlos. Aus diesem Grund hatte ich auch den Whiskey nach meinem ersten großen Schluck nicht mehr angerührt, ich fürchtete, dass ein Rausch hier gefährlich sein konnte. Zudem war mir das Schweigen bei Tisch unbehaglich. Zwanzig Minuten saßen wir uns schon gegenüber, ohne dass ein Wort gefallen wäre, doch ich würde nicht anfangen zu sprechen. Was sollte ich ihm auch sagen?
Orson hatte eine Weile auf seinen Teller gestarrt, doch nun fixierte er wieder mich. Er räusperte sich.
»Andy«, sagte er. »Erinnerst du dich an Mr Hamby?«
Ich konnte es nicht unterdrücken. Zum ersten Mal seit Tagen huschte ein Lächeln über meine Lippen.
»Möchtest du, dass ich dir davon erzähle, als hörtest du es zum ersten Mal?«, wollte Orson wissen.
Als ich nickte, neigte er sich fröhlich und mit großen Augen nach vorne, der geborene Geschichtenerzähler.
»Als Kinder fuhren wir jedes Jahr mehrere Male zu unserer Großmutter aufs Land nördlich von Winston-Salem. Großvater war schon tot und sie mochte Gesellschaft. Wie alt waren wir damals? Vielleicht neun? Sagen wir mal, wir waren neun…«
Du kommst mir vor wie Orson, und ich weiß, ich hoffe, dass dieses Gefühl nicht anhält, aber großer Gott, in diesem Moment kommst du mir vor wie mein Bruder.
»… und Großmutters Haus stand neben einer Apfelplantage. Jo Hambys Apfelgarten. Er war Witwer und lebte allein. Es war zu Beginn des Herbstes, und Schulklassen und Kirchengruppen besuchten Hambys Apfelplantage, um Äpfel zu pflücken, Kürbisse zu ernten, Apfelsaft zu kaufen und auf dem Heuwagen mitzufahren.
Und da dieser Apfelgarten an Großmutters Grundstück grenzte, konnten wir der Versuchung nicht widerstehen, wiederholt nach drüben zu schleichen. Wir klauten
Weitere Kostenlose Bücher