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Bruderherz

Titel: Bruderherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blake Crouch
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Norden und Osten und der Reihe roter Felsen im Westen. Außerdem skizzierte ich die Pflanzenwelt: Beifuß, Steppenläufer, Fettholz, Lupinen und viele andere Wüstenblumen, an denen ich während der frühabendlichen Spaziergänge vorbeikam.
    Manchmal sah ich abends kurz nach Sonnenuntergang, wenn nur noch ein roter Schein den Himmel erleuchtete, Antilopen- und Großohrhirschrudel durch die Wüste ziehen. Ihre sich gegen den Horizont abzeichnenden Silhouetten versetzten mir einen Stich, denn ich beneidete die langsam aus meinem Blickfeld wandernden Tiere um ihre Freiheit. Auch diese Beobachtungen hielt ich im Tagebuch fest und notierte ebenfalls, wenn ich Eselhasen oder Wüstenspringmäuse mit ihren langen Schwänzen gesehen hatte. Nachts kreischten fortwährend Schleiereulen, auch wenn ich sie nie zu Gesicht bekam, und in der Tageshitze kreisten Truthahngeier am Himmel. Durch die Niederschrift dieser Beobachtungen hoffte ich, eines Tages die geografische Lage dieser Wüste bestimmen zu können. Doch offen gesagt hatte ich keine Ahnung, ob es mir je vergönnt sein würde, diesen Ort zu verlassen.
     
    Ich lag wach im Bett. Es war spät, ich hatte mein Tagebuch beiseite gelegt, und Orson hatte wie jede Nacht den Generator abgestellt, so dass es in der Hütte vollkommen still war.
    Nur der Wind draußen in der Dunkelheit unterbrach die trügerische Ruhe. Ich spürte, wie er sich durch die Ritzen des Gebälks drückte. Ein unablässiges Wehen.
    Während der letzten Stunde hatte mich eine Erinnerung verfolgt.
    Orson und ich sind acht Jahre alt und spielen im Wald nahe unseres Elternhauses in Winston-Salem, North Carolina, unter einem wolkenlosen Augusthimmel. Wie viele kleine Jungen faszinieren uns wilde Tiere, und Orson fängt eine graue Eidechse, als sie über einen morschen Holzstamm huscht.
    Begeistert von dem Fund, sage ich ihm, dass er die Eidechse festhalten soll, und er gehorcht mir mit einem verschlagenen Grinsen. Ich hole eine Lupe aus der Tasche. Die Sonne scheint grell und sofort zeichnet sich ein heller Lichtfleck auf der schuppigen Haut der Echse ab. Das Sonnenlicht brennt ein Loch hinein und Orson und ich schauen uns an, lachen vor Begeisterung und sind völlig gefesselt von der rauchenden Eidechse, die sich windend zu befreien sucht.
    »Jetzt bin ich dran!«, ruft er schließlich. »Du musst sie halten.«
    Den ganzen Nachmittag über quälen wir die arme Kreatur. Als wir fertig sind, werfe ich sie ins Gras, doch Orson besteht darauf, sie mitzunehmen.
    »Ich besitze sie jetzt«, sagt er. »Sie gehört mir.«

Kapitel 8
     
    Tag 6 (nach Mitternacht?)
     
    Habe heute wieder geduscht. Das Thermometer zeigte 35 Grad Celsius an, als ich nackt über den glühend heißen Boden zum Brunnen rannte. Ich hasse dieses eisige Wasser. Es fühlt sich an wie höchstens ein oder zwei Grad und raubt mir den Atem, wenn ich es über mich gieße. Ich habe mich so schnell wie möglich gewaschen, doch bis ich die Seife wieder abgespült hatte, zitterte ich am ganzen Körper.
    Ich wollte in der Abenddämmerung spazieren gehen, doch Orson hat mich in mein Zimmer gesperrt. Er ist nun schon seit etlichen Stunden weg. Von meinem Schlafzimmerfenster aus habe ich gesehen, wie ein brauner Buick auf einer schmalen Sandpiste, die geradeaus bis zum Horizont reicht, nach Osten davonfuhr. Ich fühle mich hier sicherer ohne ihn.
    »Die Angst, zu leben« ist inzwischen vermutlich an die Buchhandlungen ausgeliefert worden, und ich schätze, Cynthia hat mindestens neun Magengeschwüre. Ich kann es ihr nicht verübeln. Dieser Tage sollte meine Lesereise in zwölf Großstädte beginnen. Signierstunden, Radiointerviews und Fernsehauftritte werden abgesagt werden müssen. Das wird sich negativ auf die Verkaufszahlen auswirken, ich breche gerade den Vertrag mit meinem Verlag… doch ich kann jetzt nicht darüber nachgrübeln. Es liegt nicht in meiner Macht und es macht mich nur verrückt.
    Ich lese immer noch wie ein Irrer. Während der letzten zwei Tage Poe, Plato und McCarthy. Ich verstehe immer noch nicht, was Orson mit dieser Lektüre so verzweifelt beabsichtigt. Zum Teufel, ich bin mir nicht einmal sicher, ob er es selbst weiß! Auch er verbringt seine Tage lesend, und ich frage mich, wonach er in diesen Millionen von Seiten sucht, ob er vielleicht denkt, es gebe eine Persönlichkeit, irgendeine Geschichte oder eine Philosophie, die er nur aufdecken müsse, um eine Erklärung oder eine Rechtfertigung für das zu erhalten, was er im Spiegel sieht.

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