Bruderherz
wie kleine Monde und viele schossen geradezu über den Himmel.
»Mir ist kalt«, sagte ich und strich über die Gänsehaut auf meinen Armen. Ich konnte Orson kaum noch erkennen, nur noch sein Umriss war auf der anderen Seite des Tisches sichtbar.
Er stand auf. »Wenn du aufs Klo willst, mach es jetzt. In einer Viertelstunde sperre ich dich in dein Zimmer ein.«
»Warum?«
Orson gab keine Antwort. Er räumte die Teller und Gläser nach drinnen, während ich noch einen Moment sitzen blieb und den Himmel nach Sternschnuppen absuchte. Ich rieb meine Augen und erhob mich. Ich würde aufatmen allein in meinem Zimmer, in dem ich nichts tun konnte außer lesen und schlafen. Das Geräusch der Teller im Waschbecken schreckte mich auf und ich lief barfuß durch den warmen Sand zum Klohäuschen.
Kapitel 7
Die Tage in der Wüste vergingen schleppend. Die Sonne nutzte jede Gelegenheit, die Landschaft zu verbrennen, und so war es nach zehn Uhr morgens gefährlich, sich nach draußen zu wagen. Die Hitze war trocken und stickig, daher versuchte ich mich in den schattigeren und kühleren Bereichen meines Zimmers oder im restlichen Teil der Hütte aufzuhalten, wenn ich nicht eingesperrt war.
Lebensmittel waren im Überfluss vorhanden. Wenn ich es recht überlege, habe ich nie besser gegessen. Orsons Gefriertruhe war bis an den Rand mit erstklassigem Fleisch gefüllt und er bereitete täglich drei vorzügliche Mahlzeiten zu. Wir aßen Steaks, Lachs, Kalbfleisch, einmal sogar Hummer, und tranken abends reichlich Wein zum Essen. Irgendwann fragte ich ihn, warum er so königlich speiste, und er antwortete: »Weil es mir zusteht, Andy. Es steht uns beiden zu.«
Kaum hatte ich ein Buch ausgelesen, gab mir Orson ein neues. Nach Machiavelli kam Seneca und danach Demokratis über die Vernichtung der Melancholie. Obwohl ich jeden Tag ein Buch las, drängte mich Orson immer wieder, noch schneller zu lesen. Ich konnte mir nicht vorstellen, welchen Nutzen er für mich in der Lektüre dieser klassischen Texte sah, aber das würde er sicherlich noch enthüllen.
Ich war besessen davon, mögliche Fluchtwege zu ersinnen. Obwohl ich Gelegenheit dazu hatte, war es unmöglich, einfach wegzugehen. Ich besaß weder die Kraft noch die Hilfsmittel, durch die Wüste zu wandern, zumal ich nicht einmal die Richtung wusste, in die ich gehen müsste. Da ich annahm, dass Orsons Transportvehikel in der abgeschlossenen Scheune stand, wartete ich auf den richtigen Augenblick, ersann einen Plan und sammelte Nerven- und Willensstärke, um meinen Bruder zu überwältigen. Ich würde nicht ungeduldig werden. Einzig schlaue Entscheidungen und präzises Handeln konnten mein Leben retten.
Es beruhigte mich, ein Tagebuch zu führen. Einige Stunden nach Einbruch der Dämmerung, wenn ich meine Lektüre beendet und Orson mich eingesperrt hatte, saß ich auf dem Bett und notierte die Geschehnisse des Tages. Ich schrieb eine Stunde lang, oft auch länger, und schweifte in Gedanken manchmal ab nach Hause und an den See. Ich verfasste kunstvolle Beschreibungen meines Grundstücks und rief mir in dieser einsamen Wüste die Gerüche und Geräusche des sommerlichen Sees ins Gedächtnis. Zweifellos wurden diese Stunden für mich zur liebsten Zeit des Tages, zeitweise auch zur mentalen Oase. Es war alles, woran ich während des Tages denken konnte – wofür ich lebte. Und wenn ich schließlich Stift und Papier zurück in die Schublade legte und das Licht ausmachte, konnte ich häufig noch das Wasser des Sees gegen die Ufer schlagen und den Wind im Geäst der Bäume hören.
Was das Datum anging, wusste ich nur, dass es inzwischen Ende Mai war. Da ich während meiner Entführung unter Drogen gestanden hatte, wusste ich nicht mit Bestimmtheit, an welchem Tag ich in der Wüste das Bewusstsein wiedererlangt hatte. Vielleicht waren zwischen der stürmischen Nacht im Motel und meinem Erwachen in der Hütte Tage vergangen. Daher überschrieb ich meine Tagebucheinträge ab dem ersten Tag nach Wiedererlangung des Bewusstseins mit Tag 1, Tag 2, Tag 3 usw. Ich konnte nicht nachvollziehen, warum Orson das Datum vor mir geheim hielt. In meiner jetzigen Situation erschien das Datum zwar irrelevant, dennoch ärgerte es mich, es nicht zu wissen.
Von der geografischen Lage der Hütte hatte ich nicht die leiseste Ahnung. Vielleicht irgendwo westlich der Prärien. Ich zeichnete die Aussichten von der vorderen Veranda und von meinem vergitterten Fenster, einschließlich der Bergkette nach
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