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Bruderherz

Titel: Bruderherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blake Crouch
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einem Bild starrte er trotzig, mit Fingernagelspuren auf beiden Wangen und toten, seelenlosen Augen in die Kamera.
    Im dritten, als »Die Minuten« betitelten Hefter hatte Orson auf unlinierten losen Papierbogen eine Chronik über seine bisher sechs mörderischen Sommer geführt. Ich blätterte bis zum Ende und überflog die Quintessenz unserer gemeinsamen Zeit, bis ich zum letzten Absatz kam:
     
    Wyoming, 2. Juni 1996
    Er war nicht so einfach oder so produktiv wie Luther, doch ich spüre in ihm ein Potenzial, das weit über das meines anderen Schülers hinausgeht. Daher lasse ich ihn frei. Eine weitere Woche hier und er würde den Verstand verlieren, dabei möchte ich, dass seine Wut so lange in ihm gärt, bis er trunken vor Hass ist. Er ist mein Bruder. Er ist in vielerlei Hinsicht wie ich. Ich liebe ihn, und das wenigste, was ich für ihn tun kann, ist, ihm zu helfen, sich selbst kennen zu lernen. Obwohl ich ihn gerne noch einmal hierher holen würde, will ich eine Voraussage machen: Es wird nicht nötig sein. Er wird mich heimsuchen, und es gibt nichts, was ich tun könnte, um das zu verhindern. Andy ist schlau und bemerkenswert grausam, wenn es sein muss. Falls er mich aufspürt, gebe ich ihm das Geschenk, denn er wird dann dafür bereit sein. Merkwürdig – diese Selbstlosigkeit, die er in mir auslöst.

Kapitel 35
     
    Der Mond stieg über den Winds-Bergen auf und verwandelte die Schneedecke in ein Feld voller blauer Diamanten. Ich erwärmte mir auf dem kleinen Ölofen eine Dose Schweinefleisch mit Bohnen, und während ich weiter hinaus in die Wüste spähte und nach Orson Ausschau hielt, füllte ihr süßlicher Räucherduft die Hütte.
    Wir hatten den Wagen gegen Mittag verlassen, inzwischen war es beinah halb neun. So lange konnte er nicht in der Wüste überlebt haben. Die Temperatur war den ganzen Tag nicht über minus zehn Grad gestiegen, und bei der unzureichenden Kleidung, mit der er durch den Schnee marschiert war, musste er längst erfroren sein. Also lag er entweder irgendwo da draußen tot herum oder er hatte Schutz gefunden. Die einzigen möglichen Zufluchtsorte waren der Lexus, die Scheune oder diese Hütte. In der Hütte war er nicht. Ich hatte in den vier Schränken und unter den beiden Betten nachgesehen und wusste mit Sicherheit, dass ich hier alleine war. Die Scheune glänzte im Mondenschein. Ich konnte sie durch das Fenster neben der vorderen Tür sehen. Wenn ich die Nerven dazu gehabt hätte, wäre ich vielleicht nach draußen gegangen und hätte nach Spuren gesucht, die zur Scheune führten. Doch ich konnte mich nicht entschließen, noch einmal hinaus in die eisige Kälte zu gehen und nach ihm Ausschau zu halten, zumal sich an meinen Beinen allmählich Frostbeulen bildeten. Wo bist du?, dachte ich. Und was planst du?
    Als ich mein Abendessen beendet hatte, setzte ich mich auf den Boden neben den Ölradiator und holte mir den Schuhkarton vom Sofa, den ich unter der unbrauchbaren Spüle gefunden hatte und der alle möglichen Schätze enthielt, darunter Führerscheine für die Bundesstaaten Indiana, Oregon, Kalifornien und Louisiana. Außer Orson Thomas und David Parker war er noch Roger Garrison, Brad Harping, Patrick Mulligan und Vincent Carmichael. Mit Ausnahme von Roger Garrison besaß er auch für alle Namen Pässe, und beim Durchblättern stellte ich fest, dass er auch Europa und Südamerika ausgiebig bereist hatte.
    Der Fund, der mich am meisten freute, war jedoch ein von einem Gummiband zusammengehaltenes Bündel Hundertdollarnoten. Ich zählte 52 800 Dollar – genug, um zu verschwinden.
    Ich schloss den Schuhkarton und steckte ihn in die Schublade zu den Videokassetten und Schnellheftern, die ich mit ins Wohnzimmer genommen hatte. Nachdem ich die gesamte Hütte durchkämmt hatte, lagen nun alle belastenden Beweismittel in dieser einen Schublade, und zu meiner großen Beruhigung waren sie endlich in meinem Besitz. Ich stand auf und ging zum Fenster neben der Tür. Eine Meile hinter der Scheune ragten die Felsen gleich riesigen weißen Sanddünen über der Wüste auf. Orson, dachte ich. Nur noch du. Das Einzige, was noch zerstört werden muss.
    Wenn er mich heimsuchen würde, dann in der Nacht; doch die Erschöpfung hatte längst mein Hirn und meinen Körper übermannt. Ich werde bis Mitternacht schlafen, dachte ich. Ich bin jetzt sowieso zu nichts mehr in der Lage. Nach allem, was ich wusste, würde er nie kommen. Er könnte jetzt dort draußen liegen, statuenhaft unter dem

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