Bruderherz
noch ein silbernes Glitzern in weiter Ferne. Die Windschutzscheibe reflektierte das Sonnenlicht so stark, als wäre sie aus Glitter.
Er ist dort draußen, dachte ich und drehte mich wieder zur Hütte um. Er liegt im Schnee. Ich muss nur seinen Fußspuren folgen. Ich konnte sehen, wo sie endeten: keine fünfzehn Meter vor mir.
»Steh auf.«, schrie ich. »Ich werde dich nicht erschießen, Orson! Los, komm schon, tu das nicht!«
Nichts rührte sich. Ich griff nach dem Koffer und ging drei Schritte, als mir plötzlich etwas in den Sinn kam. Kniend grub ich mir genug Platz frei, um mich hinzusetzen. Mit Lederhandschuhen an den Händen versuchte ich, einen Tunnel in die knapp einen Meter hohe Schneewand zu graben, und musste mit Entsetzen feststellen, dass es möglich war. Während des Unwetters hatte der Wind die Schneemassen so zusammengedrückt, dass ich einen dreißig Zentimeter hohen und sechzig Zentimeter breiten Durchgang graben konnte, ohne die Schneeoberfläche zu beschädigen. Mit anderen Worten, ein Mensch konnte ungesehen unter dem Schnee entlangkriechen.
Ich stand auf, denn ich fror jetzt auch am Oberkörper. Die Fußspuren vor mir sagten überhaupt nichts aus. Als ich das Ende von Orsons Spuren erreichte und den Koffer sah, den er zurückgelassen hatte, wusste ich, dass er sich irgendwo hier in der Nähe versteckt haben konnte und mir womöglich sechzig Zentimeter unterhalb der Schneedecke auflauerte.
Ich ließ den Koffer erneut fallen und rannte in immer größer werdenden Kreisen durch den Schnee. Ich schrie, mein Bruder solle sich zeigen, und rannte so lange, bis mir schwindelig wurde. Schließlich brach ich dort, wo Orsons Spuren geendet hatten, auf unseren Koffern zusammen.
Kurz davor, zu erblinden, fürchtete ich, dass die Taubheit in meinen Beinen nur die Schmerzen kaschierten, die mich im Warmen umso heftiger überkommen würden. Die Pistole in meinen Händen war nutzlos, und mit der Einsicht, dass er momentan im Vorteil war, erhob ich mich und schleppte mich durch den jungfräulichen Pulverschnee auf die Hütte zu.
Kapitel 34
Aus der Seitentasche meiner steif gefrorenen Hose holte ich den Schlüssel, der, so hatte es Orson versprochen, die vordere Tür aufschließen würde. Ich presste ihn in das zugefrorene Schloss und drehte ihn um. Die Tür schwang auf, und die Koffer hinter mir herziehend, betrat ich die Hütte.
Ich hatte den Eindruck, dass seit Monaten niemand mehr hier gewesen war. Es lag ein widerwärtiger Geruch in der Luft, so als ob ich auf einen Speicher oder in eine muffige Kammer geklettert wäre. Durch meine eingeschränkte Sehkraft wirkte die ganze Hütte düster. Ich überquerte schwankend den Steinboden, um aus dem Fenster zu schauen, das nach Süden zeigte, also in die Richtung, aus der wir gekommen waren. Obwohl es schon später Nachmittag war, blendete die über den Felsen untergehende Sonne immer noch. Nichts bewegte sich auf der weiten, strahlend weißen Fläche, und ich tröstete mich mit dem Wissen, dass ich ihn zweifellos sehen würde, falls er sich gerade der Hütte näherte.
Doch statt weiter an meinen Bruder zu denken, wandte ich meine Aufmerksamkeit dem kranken Zustand meiner Beine zu. Unterhalb der Knie fühlte ich überhaupt nichts mehr. Ich stellte mir vor, dass es so einem Beinamputierten gehen musste, der zum ersten Mal auf Prothesen lief. Ich brauche Wärme, dachte ich und humpelte in die Küche.
Durch die Schneeblindheit sah ich alles mit einem Rotstich. Nichts hatte sich verändert. An den Wänden standen immer noch Orsons zahllose Bücherregale, und an der Nordseite des Wohnzimmers befand sich die perfekt eingerichtete Küche, der nur eine funktionierende Spüle fehlte. Die Türen zu den beiden Schlafzimmern waren geschlossen, und als ich sie und den kleinen Monet an der Wand dazwischen erblickte, wurde mir ganz flau im Magen.
Auf einem Hocker neben der vorderen Tür bemerkte ich Orsons Plattenspieler und daneben den Stapel Jazzplatten, den er zurückgelassen hatte. Ich hätte eine Platte aufgelegt, doch es gab keinen Strom. Da dämmerte mir, dass ich vor Einbruch der Dunkelheit den Kraftstofftank finden musste, um den Generator zu starten.
In einer Nische entdeckte ich, wonach ich gesucht hatte – den weißen Ölradiator. Ich fand zwar keinen entsprechenden Ölkanister, doch als ich den kleinen Ofen anhob, hörte ich an dem Gluckern, dass noch ausreichend Öl im Tank sein musste. Ich zog ihn hinter mir her ins Wohnzimmer bis vor das Ledersofa
Weitere Kostenlose Bücher