Bruderherz
nichts, was ich noch hätte tun können. Immerhin hatte ich wohl meine Füße gerettet. Wer zum Teufel braucht schon rosa Zehen?
Beim Durchsuchen der Küchenschubladen stieß ich auf eine Kerze und eine Streichholzschachtel. Als die Flamme ihr weiches, gelbes Licht gegen die Holzwände warf, überprüfte ich ein drittes Mal den Riegel und sicherte die vier Wohnzimmerfenster. Die matt messingfarben schimmernde Kerze fest umklammert, ging ich durch den engen Flur in den hinteren Teil der Hütte.
Der Schlüssel zum Vorhängeschloss an der vorderen Tür schloss auch die Tür zu meinem ehemaligen Gefängnis auf. Das karge und enge Zimmer sah noch genauso aus, wie ich es verlassen hatte. Obwohl das Fenster an der anderen Wand immer noch vergittert war, griff ich hindurch und probierte den Fensterriegel. Dann öffnete ich die Schubladen der Kommode, doch sie waren leer. Ich schaute unter dem Bett nach. Das Zimmer barg absolut nichts Besonderes – eine sichere Zelle, nichts weiter.
Ich ging zurück auf den Flur und blieb vor Orsons Tür stehen. Ich berührte den Türknauf und zögerte. Du bist allein. Scheiß auf die Angst! Ich trat ein.
Die Tiefkühltruhe stand unverschlossen unter dem Fenster. Ich öffnete sie. Leer. Ich verriegelte das Fenster. Nun musste er Glas zerbrechen, um hereinzugelangen.
Nachdem ich die Kerze auf Orsons Kiefernholzkommode gestellt hatte, öffnete ich sämtliche Schubladen. Die obersten drei waren leer, doch die letzte klemmte. Ich zerrte daran herum, und als sie sich auch dadurch nicht öffnen ließ, trat ich schließlich dagegen. Das Holz knarrte, ich zog noch einmal ruckartig an beiden Griffen. Die Schublade kam mir entgegen und landete auf dem Boden.
Danke, lieber Gott!
Ich fand darin fünf Videokassetten, einen Stapel Schnellhefter, eine Schachtel mit Mikrokassetten und drei Notizbücher. Ich nahm die Kerze von der Kommode, hielt sie über die Schublade, griff nach einer Videokassette und las das mit seiner akkuraten Handschrift beschriftete Etikett: Jessica Horowitz: 29.5.92; Jim Yountz: 20.6.92; Trevor Kistling: 25.6.92; Mandy Sommers: 6.7.92; alle auf einem Etikett, und es gab fünf solcher Videos, die drei, die ich in Woodside zerstört hatte, nicht mitgerechnet. Mir fiel auf, dass alle Kassetten ausnahmslos in den Monaten Mai, Juni, Juli und August bespielt worden waren: seiner Jagdsaison.
Auf den Mikrokassetten standen nur Daten, und ich nahm an, dass sie dasselbe selbstgefällige Gefasel enthielten, wie es Orson auch in Vermont in sein Diktiergerät gesprochen hatte. Ich nahm ein grünes, mit Spiralheftung gebundenes Notizheft, legte mich auf den Bauch und blätterte es bei Kerzenschein durch. Dieses Heft war von vorne bis hinten mit Gedichten voll geschrieben. Ich las mir laut ein kurzes Gedicht ohne Titel vor, um den Rhythmus seiner Verse zu begutachten, ließ seine klare, vielschichtige Stimme durch meine hindurchfließen:
Du bist immer bei mir
Wenn ich im Dunkeln im Bett liege
Wenn ich durch belebte Straßen gehe
Wenn ich zum Nachthimmel aufschaue
Wenn ich scheiße
Wenn ich lache
Wenn ich sie alle besitze, wie du mich besitzt
Du bist allgegenwärtig, aber nicht mein Gott
Du hast mich aufgezogen, aber nicht geschaffen
Du bist Gas, aber nicht das Feuer
Ich bin unergründlicher
Ich bin unkalkulierbar
Ich bin
Die beiden anderen Notizhefte enthielten Kurzgeschichten, hirnverbrannte Ideen und die fragmentarischen Gedanken eines Menschen, der den Ehrgeiz hat, zu schreiben. Orson hätte keinen Erfolg als Schriftsteller. Er konnte hübsche Sätze formulieren, aber insgesamt besaßen seine Gedichte und seine Prosa zu wenig Eleganz und zu viel Mehrdeutigkeit, so dass ein Versuch, einen Verleger zu finden, von vornherein zum Scheitern verurteilt wäre. Ich wollte ihm das sagen und auch, dass seine Poesie prosaisch war. Ich wollte, dass er mir zusah, wie ich seine Notizhefte und Videokassetten verbrannte.
Es gab noch drei Schnellhefter. Im ersten, überschrieben mit »In den Nachrichten«, befanden sich lauter Zeitungsartikel über das Auffinden oder das Verschwinden von Orsons Opfern. Der zweite Hefter, »Erinnerungen«, war voll gestopft mit Fotos, die ich mir alle genau anschaute. Auf einem halben Dutzend Fotos sah ich mich selbst, doch sie schockierten mich weniger, als ich befürchtet hatte. Sogar das Bild, wie ich Sekunden nach Jeffs Exekution auf ihn hinabstarre, machte mir nichts aus.
Eine Hand voll Fotos zeigten Luther und seine abscheulichen Taten. Auf
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