Bruderschaft der Unsterblichen
unter sich und ermutigen Besucher nicht, zu kommen. Trotzdem begegnen sie jedem herzlich und gesittet, der sich in ihre isolierte, von Kakteen umringte Zuflucht verirrt. Der Baustil ist merkwürdig, eine Kombination aus mittelalterlichem Christentum und etwas, das aztekischen Motiven ähnelt. Das vorherrschende Symbol, welches dem Kloster ein eigentümliches, sogar groteskes Erscheinungsbild gibt, ist der menschliche Totenschädel. Überall Schädel, grinsend und düster, als Relief oder in sonstigen dreidimensionalen Darstellungen. Ein langer Fries von Schädeldarstellungen scheint nach dem Muster hergestellt worden zu sein, das man in Chichen Itzá auf Yukatán finden kann. Die Mönche sind hager und kräftig, ihre Haut ist gebräunt und gehärtet von der Wüstensonnenstrahlung und dem Wind. Seltsam, sie wirken gleichzeitig alt und jung. Der einzige, mit dem ich sprechen konnte, weigerte sich, seinen Namen zu nennen, mochte dreißig oder dreihundert Jahre alt sein; es war unmöglich, dies zu entscheiden …“
Nur durch Zufall entdeckte ich diese Meldung, als ich die Reisebeilage der Zeitung überflog. Nur ein Zufall, daß etwas von dieser merkwürdigen Sache – ein Fries voller Schädel, alte und doch junge Gesichter sich in meinem Bewußtsein hielt. Und genauso der reine Zufall, daß ich einige Tage später auf das Manuskript des Buches der Schädel in der Universitäts-Bibliothek stieß.
Unsere Bibliothek hat ein Archiv, ein Lagerhaus voller auserlesener Stücke und Kuriosa, Manuskriptreste, Apokryphen und Raritäten, die bisher niemand einer Übersetzung für wert befunden hatte, geschweige denn einer Entschlüsselung, Klassifizierung oder Analyse. Ich glaube, jede größere Universität verfügt über ein ähnliches Repositorium, angefüllt mit einer Vielfalt von Dokumenten, die durch Stiftungen oder eine Ausgrabungsexpedition in ihren Besitz gelangten und nun auf eine gelegentliche (in zwanzig Jahren, in fünfzig?) genaue Untersuchung durch die Gelehrten warten. Unser Repositorium ist weiträumiger angelegt als die meisten anderen, vielleicht, weil drei Generationen von Bibliothekaren hungrig und habsüchtig für ein Imperium gesammelt haben. Sie häuften die Schätze des Altertums schneller an, als ein ganzes Bataillon Gelehrter mit dem Zuwachs fertig werden konnte. In einem solchen System werden bestimmte Sachen ungeordnet beiseite gelegt, hinweggeschwemmt vom Strom der Neuerwerbungen. Bald sind sie verborgen, vergessen und verwaist. Deshalb befinden sich bei uns ganze Regale, die vollgestopft sind mit sumerischen und babylonischen Keilschrift-Dokumenten, die meisten von ihnen wurden während der gefeierten Ausgrabungen 1902-1905 in Mesopotamien zutage gefördert; wir besitzen tonnenweise ungeöffnete Papyrusrollen aus den späteren ägyptischen Dynastien; kiloweise liegt dort Material aus den Synagogen des Irak, nicht nur Thorarollen, sondern auch Hochzeitsurkunden, Gerichtsurteile, Pachtbriefe und Gedichte; wir verfügen über beschriftete Stöcke aus Tamariskenholz aus den Höhlen von Tun-huang, ein vernachlässigtes Geschenk von Aurel Stein, das schon ziemlich lange dort liegt, wir besitzen Truhen voller Gemeindeverzeichnisse aus den miefigen Urkundenräumen der alten Yorkshire-Burgen; wir haben Bruchstücke und Streifen der präkolumbianischen mexikanischen Handschriften, stapelweise finden sich bei uns Hymnen und Meßgesänge von Klöstern in den Pyrenäen aus dem vierzehnten Jahrhundert. Wer weiß, vielleicht enthält unsere Bibliothek auch den Schlüssel, um die Geheimnisse der Schriften aus Mohenjo-daro zu enträtseln, oder sie führt das Lehrbuch für etruskische Grammatik von Kaiser Claudius, unkatalogisiert mögen dort die Memoiren von Moses oder das Tagebuch von Johannes dem Täufer zu finden sein. Diese Entdeckungen werden, wenn überhaupt, von anderen Bummlern in den dämmrigen, staubigen Lagertunneln unter dem Hauptgebäude der Bibliothek gemacht werden. Aber ich bin derjenige gewesen, der das Buch der Schädel gefunden hat.
Gesucht habe ich nicht danach. Ich hatte ja noch nie davon gehört. Unter der Hand verschaffte ich mir die Erlaubnis, die Lagergewölbe zu betreten, um eine Sammlung von Manuskripten katalanischer mystischer Verse aus dem dreizehnten Jahrhundert zu suchen, die wahrscheinlich der Antiquitätenhändler Jaime Maura Gudiol aus Barcelona 1893 vermacht hatte. Professor Vasquez Ocaña, mit dem ich bei einigen Übersetzungen aus dem Katalanischen zusammenarbeiten sollte,
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