Bruderschaft der Unsterblichen
täglich sterben, sollen wir durch das Sterben ewig leben. Ist einer unter Euch, der zugunsten seiner Brüder in der Viererfigur auf die Unsterblichkeit verzichten will, so daß sie die Erkenntnis der Bedeutung der Selbstaufgabe erringen können? Und ist einer unter Euch, den zu opfern seine Kameraden bereit sind, so daß sie die Erkenntnis der Bedeutung des Ausschlusses erfassen können? Laßt die Opfer sich selbst erwählen. Laßt sie den Wert ihres Lebens nach dem Wert ihres Abgangs erwägen.“
Und mehr noch stand da, insgesamt achtzehn Mysterien und eine Zusammenfassung, die allerdings absolut unverständlich war.
Ich war wie besessen. Es war die ungeheure Faszination des Textes, die mich gefangenhielt, seine düstere Schönheit, sein reichhaltiger Zierat, sein gonghafter Rhythmus – und noch gar nicht die plötzliche Verbindung zu diesem Kloster in Arizona. Natürlich konnte ich das Manuskript nicht nach Hause mitnehmen. Aber ich ging nach oben, arbeitete mich wie Banquos schreckliches Gespenst aus den Gewölben empor und beantragte zum Studium einen Studienraum zwischen den Regalen. Dann ging ich nach Hause und badete. Ned gegenüber erwähnte ich nichts von meiner Entdeckung, obwohl er bemerkte, daß mich etwas intensiv beschäftigte. Dann kehrte ich zur Bibliothek zurück, versehen mit Papier, Stiften und meinen eigenen Wörterbüchern. Das Manuskript wartete auf dem mir zugeteilten Schreibtisch bereits auf mich. Bis zweiundzwanzig Uhr, so lange wie die Bibliothek geöffnet hatte, mühte ich mich in meiner schlechtbeleuchteten Zelle ab. Jawohl, ohne Zweifel behaupteten diese Spanier, den Weg zur Erlangung der Unsterblichkeit zu kennen. Der Text selbst führte keine weiteren Anhaltspunkte über ihre Methoden an, sondern beharrte lediglich darauf, daß sie damit erfolgreich seien. Eine ganze Menge Symbolik über den Schädel unter dem Gesicht war enthalten; für einen Kult, der so am Leben orientiert war, waren diese Mönche doch ziemlich stark von der Darstellung des Grabes fasziniert. Vielleicht war dies die notwendige Unstimmigkeit, der schreiende Widerspruch, wie er Ned bei seinen ästhetischen Theorien so wichtig war. Der Text machte klar, daß einige dieser schädelanbetenden Mönche, wenn nicht sogar alle, schon Jahrhunderte überlebt hatten. (Vielleicht sogar Jahrtausende? Eine doppeldeutige Passage im Sechzehnten Mysterium deutet eine Herkunft aus einer Zeit vor den Pharaonen an.) Ihre Langlebigkeit brachte ihnen schließlich den Mißmut der um sie herum wohnenden Sterblichen ein, von Bauern, Schäfern und Baronen; sehr oft hatten sie ihr Hauptquartier woanders aufgeschlagen, ständig auf der Suche nach einem Ort, an dem sie in Ruhe und Frieden ihren Riten nachgehen konnten.
Drei Tage harter Arbeit, und ich hatte eine ziemlich genaue Übersetzung von 85 Prozent des Textes vor mir liegen und ein grobes, zur Weiterarbeit ausreichendes Verständnis von dem Rest. Das meiste davon schaffte ich aus eigener Kraft, obwohl ich Professor Vasquez Ocaña bei einigen wirklich komplizierten Wendungen konsultierte. Allerdings verriet ich ihm nichts von der wahren Natur des Projekts. (Wenn er fragte, ob ich den Aufbewahrungsort der Maura Guidol gefunden hätte, antwortete ich immer ausweichend.) Zu diesem Zeitpunkt hielt ich die ganze Sache noch immer für ein hübsches Märchen. Als Junge hatte ich Lost Horizon gelesen. Ich erinnerte mich an Shangri-La, das geheime Kloster im Himalaya, die Mönche übten sich in Yoga und atmeten reine Luft, dieser wunderbare Schock, der in dem Satz „ Daß sie immer noch leben, Vater Perrault“ steckte. Natürlich nimmt man solches Zeugs nicht ernst. Ich nahm mir vor, meine Übersetzung in, na, sagen wir, Speculum zu veröffentlichen, mit einem angemessenen Kommentar über den im Mittelalter weitverbreiteten Glauben an die Unsterblichkeit, mit Verweisen auf den Mythos um Priester John, auf Sir John Mandeville und auf die Erzählungen Alexanders. Die Bruderschaft der Schädel, die Hüter der Schädel, deren Hohepriester, die Prüfung, die von vier Kandidaten gleichzeitig begonnen werden muß, nur zwei von ihnen dürfen überleben, der Hinweis auf antike Geheimnisse, an denen Jahrtausende vorübergezogen sind – warum nicht, das hier hätte ja auch genausogut ein altes Märchen sein können, das Scheherazade erzählt hat, oder? Ich nahm die große Mühe auf mich, sorgfältig Burtons Ausgabe von Tausend und eine Nacht durchzugehen, alle sechzehn Bände, weil ich vermutete, die
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