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Bruderschaft der Unsterblichen

Bruderschaft der Unsterblichen

Titel: Bruderschaft der Unsterblichen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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gleichzeitig erschreckender gewesen. „Los“, sagte ich heiser, meine Stimme kickste, und ich trat unsicher ein paar Schritte nach vorn. Eine steinerne Treppe führte steil in das Gewölbe hinein. Zwei Meter unter der Erde fand ich mich in einem dunklen Tunnel wieder, breit, aber mit niedriger Decke, höchstens anderthalb Meter hoch. Die Luft war kühl. Im fahlen Licht konnte ich Verzierungen an den Wänden erkennen: Schädel, Schädel, Schädel. Kein einziges christliches Symbol war irgendwo in diesem sogenannten Kloster zu erkennen, nur die Todessymbolik war allgegenwärtig. Von oben rief Ned: „Wie sieht’s da unten aus?“ Ich beschrieb den Tunnel und sagte ihnen, sie sollten mir folgen. Und sie stiegen herab, scharrend und unsicher: Ned, Timothy, Oliver. Geduckt ging ich weiter. Die Luft wurde immer kühler. Bald konnten wir überhaupt nichts anderes mehr erkennen als den purpurfarbenen Dämmerschein vom Eingang. Ich versuchte, meine Schritte zu zählen. Zehn, zwölf, fünfzehn. Sicher befanden wir uns jetzt unter dem Gebäude. Urplötzlich lag vor mir eine glänzende steinerne Barriere, ein einzelner Felsblock, der den Tunnel rundum ausfüllte. Erst im letzten Moment entdeckte ich ihn, als mir ein kalter Glanz in diesem fahlen Licht ins Auge fiel. Ich hielt inne, bevor ich auf ihn aufprallen konnte. Eine Sackgasse? Ja, ganz sicher, und im nächsten Moment würden wir hinter uns das Krachen eines zwanzig Tonnen schweren Steinbrockens hören, der auf den Eingang zum Tunnel herabgelassen worden war. Dann würden wir in der Falle sitzen, einem Hunger- oder Erstickungstod preisgegeben, während das Getöse vom Lachen der Mönche in unseren Ohren dröhnte. Aber nichts derart Melodramatisches geschah. Probeweise preßte ich eine Handfläche gegen den kalten Stein, der uns den Weg versperrte, und der Effekt hätte aus Disneyland sein können, ein wunderbarer Hokuspokus – der Stein machte Platz, schwang sich sanft von mir weg. Er war perfekt ausbalanciert: Die leichteste Berührung genügte, um ihn zu öffnen. Das paßte ja haargenau, dachte ich, daß wir auf diese operettenhafte Weise das Haus der Schädel betreten sollten. Ich war auf melancholische Posaunen, Baßhörner und einen Chor aus Baßstimmen gefaßt, der hinter uns ein Requiem intonierte: Pietatis fons, me salva, gratis salvas salvandos qui, majestatis tremendae rex. Über uns eine Öffnung. Mit gebeugten Knien krochen wir darauf zu. Wieder Stufen. Hinauf. Einer nach dem anderen kamen wir in einem riesigen, viereckigen Raum heraus, dessen Wände aus kiesigem blassem Sandstein bestanden. Es gab kein Dach, nur ungefähr ein Dutzend dicker schwarzer Balken, die in Intervallen von etwa einem Meter angebracht waren und so das Sonnenlicht und die stickige Hitze einließen. Der Boden des Raums bestand aus purpurgrünem Schiefer, die Oberfläche war irgendwie ölig und poliert. In der Mitte befand sich ein faßähnlicher Springbrunnen aus grünem Jade, von dem sich eine ungefähr einen Meter hohe menschliche Figur erhob; der Kopf der Figur war ein Totenschädel, aus dessen Kiefern sich unaufhörlich ein dünner Wasserstrom ergoß und ins darunterliegende Bassin plätscherte. In den vier Ecken des Raumes standen hohe Steinstatuen im Maya- oder Aztekenstil, die Männer mit geschwungener, abgebogener Nase, dünnen, grausamen Lippen und immensen Ohren-Ornamenten dargestellt. Gegenüber dem Ausgang aus dem unterirdischen Gewölbe befand sich eine Tür, in deren Rahmen ein Mann so bewegungslos stand, daß ich ihn zuerst ebenfalls für eine Statue hielt. Als wir alle vier in dem Raum versammelt waren, sagte der Mann mit tiefer, volltönender Stimme: „Guten Tag! Ich bin Bruder Antony.“
    Er war klein, untersetzt, kaum mehr als ein Meter sechzig groß und trug nur eine Hose aus grobem Drillich, die ihm bis zur Mitte der Oberschenkel reichte. Seine Haut war tief gebräunt, eine Farbe fast wie Mahagoni, und das Gewebe schien aus sehr feinem Leder zu sein. Sein breiter, hochstirniger Schädel war völlig kahl, noch nicht einmal um die Ohren herum befand sich eine Spur von Haarwuchs. Sein Hals war kurz und dick, die Schultern waren breit und kraftvoll, die Brust war athletisch, Arme und Beine waren wahrhaft muskelbepackt: Er machte ganz den Eindruck von überwältigender Kraft und Gesundheit. Seine ganze Erscheinung und seine Ausstrahlung von Qualifikation und Macht erinnerte mich auf ganz außergewöhnliche Weise an Picasso: ein kleiner, kräftiger, zeitloser Mensch,

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