Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Bruderschaft der Unsterblichen

Bruderschaft der Unsterblichen

Titel: Bruderschaft der Unsterblichen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
Vom Netzwerk:
der alles ertragen kann. Ich hatte keine Vorstellung, wie alt er wohl sein mochte. Ganz sicher nicht mehr jung, aber auch weit entfernt von der Schwäche des Alters. Fünfzig? Sechzig? Ein rüstiger Siebziger? Seine Alterslosigkeit war das verwirrendste an ihm. Er schien von der Zeit gänzlich unberührt, überhaupt keine Abnutzungserscheinungen: So, dachte ich, muß ein Unsterblicher aussehen.
    Er lächelte freundlich, zeigt dabei große, lückenlose Zahnreihen und sagte: „Ich bin ganz allein hier, um Sie zu begrüßen. Wir erhalten nur selten Besuch und erwarten ihn deshalb auch nie. Die anderen Brüder arbeiten auf den Feldern und werden vor der Nachmittagsandacht nicht zurückkehren.“ Er sprach ein perfektes Englisch in einer eigentümlich leblosen, akzentfreien Art, einen IBM-Akzent, um es einmal so zu umschreiben. Seine Stimme war fest und wie Musik, seine Worte kamen gelassen und selbstsicher. „Bitte, seien Sie willkommen, solange, wie Sie bleiben wollen. Wir haben die Möglichkeit, Gäste unterzubringen, und laden Sie ein, hier bei uns in unserer Zufluchtsstätte zu wohnen. Beabsichtigen Sie, länger als einen Nachmittag zu bleiben?“
    Oliver starrte mich an. Timothy. Ned. Ich war also der Sprecher. Ein eigenartiger Geschmack in meiner Kehle. Die Absurdität, die blanke Lächerlichkeit dessen, was ich sagen sollte, kam mir zu Bewußtsein und versiegelte meine Lippen. Ich spürte, wie meine sonnenverbrannten Wangen von der Schamröte überzogen wurden. Kehre um und fliehe, kehre um und fliehe, kreischte eine Stimme zwischen meinen Ohren. Zurück in das Kaninchenloch. Lauf. Lauf. Lauf, solange du noch kannst. Ich zwang eine einzige, heisere Silbe heraus:
    „Ja.“
    „In diesem Fall erhalten Sie Zimmer. Wollen Sie mir bitte folgen?“
    Er verließ den Raum. Oliver warf mir einen aufgebrachten Blick zu. „Sag’s ihm!“ flüsterte er scharf.
    Sag’s ihm. Sag’s ihm. Sag’s ihm. Na los, Eli, sag’s. Was kann dir schon passieren? Schlimmstenfalls wirst du ausgelacht. Das ist doch nichts Neues für dich, oder? Also sag’s ihm. Das jetzt ist der Moment, an dem alles zusammenläuft, die Rhetorik, die selbstbetrügerische Übertreibung, die ganzen intensiven philosophischen Debatten, alle Zweifel und Gegenzweifel, die ganze Fahrt. Jetzt bist du da. Du glaubst, daß es der richtige Ort ist. Also sag’s ihm.
    Bruder Antony, der Olivers Flüstern mitbekommen hatte, blieb stehen und drehte sich zu uns um. „Ja?“ sagte er mild.
    Verwirrt suchte ich nach Worten, bis ich schließlich die richtigen fand. „Bruder Antony, Sie müssen nämlich wissen – daß wir alle das Buch der Schädel gelesen haben …“
    Peng.
    Der unerschütterlich gleichmütige Gesichtsausdruck des Bruders geriet für einen Moment ins Wanken. Kurz bemerkte ich das Zucken von – Überraschung? Verwirrung? Ratlosigkeit? – in seinen rätselhaften dunklen Augen. Aber sehr schnell gewann er die Kontrolle über sich zurück. „In der Tat?“ sagte er, die Stimme wieder so fest wie vorher. „Das Buch der Schädel? Was ist das für ein merkwürdiger Name! Ich frage mich, was ist das Buch der Schädel?“ Die Frage war rhetorisch gemeint. Er bedachte mich mit einem hellen, kurzlebigen Lächeln, wie der Strahl eines Leuchtturms, der nur einen Moment lang den dichten Nebel durchschneidet. Aber wie der scherzende Pilatus blieb er nicht da, um uns zu antworten. Ruhig ging er nach draußen und bedeutete uns mit einem kurzen Fingerschnippen, daß wir ihm folgen sollten.

 
23. KAPITEL
Ned
     
    Na, da haben wir ja etwas zum Nachgrübeln, zumindest lassen sie uns stilvoll nachgrübeln. Jeder von uns bekommt ein eigenes Zimmer, spartanisch eingerichtet, aber sonst ganz hübsch und eigentlich gemütlich. Das Schädelhaus ist viel größer, als es von außen den Eindruck macht: Die beiden hinteren Flügel sind außergewöhnlich lang, der ganze Komplex enthält vielleicht fünfzig oder sechzig Zimmer, nicht gerechnet mögliche unterirdische Etagen. Soweit ich das sehen konnte, hatte kein Zimmer ein Fenster. Die zentralen Räume, die ich für die „Aufenthaltsräume“ halte, besitzen ein offenes Dach, aber die anderen Zimmer, in denen die Brüder leben, sind rundum geschlossen. Falls es hier ein Ventilationssystem geben sollte, so ist es mir nicht aufgefallen, da ich weder Ventile noch Rohre entdecken konnte. Aber wenn man von einem Raum mit durchbrochenem Dach in ein rundum abgeschlossenes Zimmer kommt, so erfährt man einen schnellen,

Weitere Kostenlose Bücher