Bruderschaft der Unsterblichen
‚sie’ auch für viel zu abhängig und schwach, eine richtige Klette. D a von abgesehen, für wen ich mich auch entscheiden wü r de, war ich mir ziemlich sicher, alle möglichen Szenen vom anderen erwarten zu können – hitzige Auseinande r setzungen, Drohungen, Schlägereien und was weiß ich noch alles.“ Und so, fuhr Ned fort, erklärte er höflich, daß er nicht die Ursache für ein Auseinanderbrechen zwischen Oliver und Julian sein wolle, der Menschen, die er am allermeisten schätzte, und daß er lieber, als eine solche unmögliche Entscheidung zu treffen, gleich aus ihrem Apartment ausziehen wolle. Oliver beschuldigte Ned daraufhin, er zöge Julian vor, er verschwöre sich heimlich mit Julian, um ihn hinauszuekeln. Das Gespräch wurde laut und irrational, voller Diskriminierungen und Beleidigungen. Schließlich sagte Oliver: „Es gibt für mich keinen Weg, ohne dich zu leben, Ned. Versprich mir, daß du dich für mich statt für Julian entscheidest. Versprich es mir hier auf der Stelle, oder ich stürze mich in den Abgrund.“
An dieser Stelle seiner Geschichte trat ein irrer Glanz in Neds Augen, ein teuflisches Strahlen. Ganz offensich t lich bereitete es ihm Vergnügen. Verzaubert von seinem eigenen Redefluß. Auf eine gewisse Weise ging es mir genauso. Er sagte: „Ich war es müde, von diesen Selbs t morddrohungen korrumpiert zu werden. Es war ja nicht mehr zum Aushalten, wenn einem jeder Schritt von eines anderen Drohung diktiert wurde, er werde sich umbri n gen, wenn man sich nicht auf seine Seite schlüge. ‚Oh, elende Scheiße’, sagte ich zu Oliver, ‚willst du jetzt hier auch diese Nummer abziehen? Leck mich doch. Mach nur, spring doch. Ist mir scheißegal, was tu tust.’ Ich glaubte, Oliver bluffe nur, wie das eben meistens ist, wenn Leute so etwas sagen. Aber Oliver bluffte nicht. Er gab mir keine Antwort, dachte noch nicht einmal einen Moment nach, trat einfach über den Rand. Ich sah, wie er ungefähr zehn Sekunden lang durch die Luft segelte, mich ansah, das Gesicht ganz ruhig und friedlich. Er fiel sechshundert Meter, bis er auf einen Vorsprung prallte, wie eine Puppe herumgewirbelt wurde und dann weite r stürzte, bis er auf dem Boden aufschlug. Es ging alles so schnell, daß ich keinen klaren Gedanken fassen konnte – die Drohung, meine mürrische, schnippische Antwort, sein Sprung – eins, zwei, drei. Dann begann ich zu ve r stehen. Mein ganzer Körper wurde von einer Gänsehaut überzogen. Und ich schrie, als hätte ich den Verstand verloren.“ Einige Minuten lang habe er ebenfalls daran gedacht, sagte Ned, in die Tiefe zu springen. Dann faßte er sich wieder und rannte den Bergpfad hinunter. Der Abstieg fiel ihm ziemlich schwer, ohne Oliver, der ihm helfen konnte. Er brauchte Stunden, um hinunterzuko m men, und als er unten war, herrschte tiefste Nacht. Er hatte keine Ahnung, wo Olivers Körper lag, und ni r gendwo waren Polizisten oder Telefonhäuschen oder sonst etwas zu sehen. Also wanderte er die anderthalb Meilen zum Highway und trampte zur Schule zurück. (Damals konnte er noch nicht fahren und mußte Olivers Wagen deshalb am Fuß des Berges zurücklassen.) „Den ganzen Weg zurück befand ich mich in heller Panik“, sagte er. „Die Leute, die mich mitnahmen, dachten, ich sei krank. Einer wollte mich sogar ins Krankenhaus bri n gen. In meinem Kopf gab es nur einen Gedanken: Schuld, Schuld, Schuld, Schuld, weil ich Oliver umg e bracht hatte. Ich fühlte mich für seinen Tod so veran t wortlich, als hätte ic h ihn eigenhändig hinuntergestoß en.“ Wie vorhin schon, erzählten mir Neds Worte eine Fa s sung, und seine Gesichtsmimik erzählte eine andere. „Schuld“, sagte er laut, und per Telepathie empfing ich Befriedigung. „Verantwortlich für Olivers Tod“, sagte er, und unter der Oberfläche sagte er: Begeistert, daß sich jemand aus Liebe zu mir umbrachte. „Panik“, sagte er und wortlos brach es aus ihm heraus: Erfreut über meine Fähigkeit, Leute zu manipulieren. Er fuhr fort: „Ich ve r suchte mir selbst einzureden, daß es nicht meine Schuld gewesen war, daß ich ja gar keinen Grund gehabt hatte anzunehmen, Oliver meine es ernst. Aber es wollte mir nicht gelingen. Oliver war schwul, und Schwule sind per se instabil, nicht wahr? Richtig. Und wenn Oliver sagt, er wolle springen, hätte ich ihn im Grunde genommen nicht dazu auffordern sollen, denn das war genau das, was er brauchte, um über den Rand zu treten.“ Mit Worten sagte Ned: „Ich war
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