Brückenschläge: Zwei Generationen, eine Leidenschaft (German Edition)
hatten wegen seines Bürstenschnitts. Er trug sein schwarzes Haar stoppelig kurz, so wie Stalin. Der Kamerad war meist sehr in sich gekehrt, an den Gesprächen beteiligte er sich kaum. Ich hatte immer Stubendienst mit ihm, und an einem Abend, als wir beim Essen saßen, erzählte ein Kamerad aus Berlin: »Ich habe heute einen Brief bekommen von meiner Mutter. Mein Vater hat sich freiwillig zur Wehrmacht gemeldet.« Das war, wie gesagt, im Oktober 1944 .
»Ganz schön dumm«, entgegnete ich.
»Nein, nicht wie du denkst«, sagte er.
»Na, wie denn dann?«
Seine Antwort: »Mein Vater ist Rechtsanwalt, und er sollte als Pflichtverteidiger vor dem Volksgerichtshof auftreten. Da hat meine Mutter zu ihm gesagt, ein anständiger deutscher Rechtsanwalt tritt vor diesem Blutgericht nicht auf.«
Ich erwiderte daraufhin: »Dann ziehe ich vor deinen Eltern den Hut.«
Danach trug ich mit meinem »Stalin« die Schüsseln zur Küche, und da wandte er sich an mich: »Das hat mir gut gefallen, was du vorhin gesagt hast.«
»Bist du auch dagegen?« Das war ein Schlüsselwort – man sagte »dagegen« und konnte sich immer noch herausreden, wenn es ganz ernst wurde.
Er bekannte: »Ich bin Kommunist.«
»Ist das denn besser?«, fragte ich.
»Ja! Der Kommunismus ist die Zukunft. Ich will dir eines sagen: Wenn ich an die Front komme, ich laufe zu den Russen über. Bei ihnen ist die Zukunft.«
»Und woher weißt du das?«, frage ich.
»Von meinem Vater.«
»Und wieso?«
»Mein Vater war als kommunistischer Funktionär zur Ausbildung in den zwanziger Jahren in der Sowjetunion. Und du, was denkst du mit deinen bürgerlichen Vorurteilen?«, wollte er wissen.
»Die Zukunft? Ich stelle sie mir wie in England oder Amerika vor.«
»Ach, das ist alles von gestern«, hielt er mir entgegen, »der Kommunismus ist die Zukunft.«
Nur sieben Wochen verbrachten wir gemeinsam beim Arbeitsdienst, danach hörte ich nichts mehr von ihm. Eines Tages las ich, dass »mein« Stalin, der in Wirklichkeit Werner Jarowinzky hieß, Mitglied des Politbüros der SED geworden war. Er hat dann später den Ständigen Vertreter der BRD , Hans Otto Bräutigam, bei einem offiziellen Essen gefragt: »Sehen Sie den Herrn Genscher gelegentlich in Bonn?«
»Ja.«
»Bestellen Sie ihm mal schöne Grüße.«
Bräutigam: »Kennen Sie Herrn Genscher?«
»Ja, aus alten Zeiten.«
Bräutigam sprach mich dann darauf an und dachte, wir hätten zusammen studiert. Aber ich erwiderte ihm: »Das waren noch ältere Zeiten.« Jarowinzky war, wie er später einem Journalisten erzählte, unsere Begegnung genauso in Erinnerung geblieben wie mir. Ich hätte ihn gern nach der Wende wieder getroffen, aber er ist Anfang 1990 gestorben.
Aber Sie sehen, aus den zwei Jungen von 1944 , die ihre eigene Vorstellung von der Zeit danach hatten, sind zwei Männer geworden, die – jeder für sich – ihrer Vorstellung treu geblieben sind.
LINDNER
Für uns heute ist das, was Sie in jungen Jahren erlebt haben, unvorstellbar. Getrennt von der Familie, Deutschland besetzt, die Zukunft nur eine vage Idee.
GENSCHER
Wir werden ja auch die Luftwaffenhelfer-Generation genannt. Mit 15 Jahren zum Kriegsdienst eingezogen zu werden, das macht etwas mit einem. Die ersten Luftwaffenhelfer gehörten den Jahrgängen 1926 und 1927 an. Einberufen wurden wir am 15 . Februar 1945 als Reaktion auf die verlorene Schlacht von Stalingrad. Wir mussten die Plätze der Soldaten besetzen, die bei der Flak im Landesinneren dienten und jetzt an die Front geschickt wurden, wo man eine neue 6 . Armee aufstellte. In dieser Generation ging wie ein Lauffeuer herum, was sich anbahnte. Nach unserer Entlassung aus dem Reichsarbeitsdienst Anfang Dezember 1944 und vor der Einberufung zur Wehrmacht Anfang 1945 trafen wir uns – meine Klassenkameraden und ich – am Silvestermorgen 1944 . Wir wussten alle, jetzt müssen wir ran. Wir hatten einen Einberufungsbefehl für den 6 . Januar, und wir wussten, in diesem Jahr wird die Sache beendet. Darin waren wir uns einig, und so haben wir uns im Januar 1945 verabredet, wann man sich wo trifft.
Einer fragte: »Was denkt ihr denn, wer als Erstes zurückkommt?« Und dann entschieden wir uns für einen Namen. Tatsächlich war er der erste, der zurückkam – können Sie sich das vorstellen? Ich war der dritte, der kam, am 7 . Juli 1945 .
Uns alle beherrschte das Gefühl: »Wir müssen jetzt etwas Neues, etwas Besseres machen.« Was dieses Neue sein würde, wussten wir
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