Brückenschläge: Zwei Generationen, eine Leidenschaft (German Edition)
dürfe ich eine Niederlage mit der Krankheit erklären. Der Beste müsse ich sein wollen im Studium. Ganz vorn müsse ich sein wollen, immer, auch bei den Weibern, sagte er – was meine Mutter unerhört fand, der ich das später erzählt habe. Die Worte dieses Arztes waren eine Stimulans, über die Krankheit hinaus. Nicht aufgeben – es ist zu packen! Damals hieß Tuberkulose, so wie ich sie hatte, vielleicht Tod, aber jedenfalls nie richtig arbeitsfähig. Also eine eigentlich total deprimierende Perspektive. Ich habe nach sechs Semestern das Referendarexamen abgelegt, verbrachte davon aber nur dreieinhalb Semester an der Uni. Im Krankenhaus habe ich weitergelernt. Politik stand da nicht mehr in der Mitte.
LINDNER
Wann kehrte sie in die Mitte zurück?
GENSCHER
Im Jahr 1946 habe ich meinen ersten Wahlkampf noch mitgemacht – Kommunalwahlen und Landtagswahl. Hinterher hielt ich mich völlig zurück und blieb einfach still. Man blieb in der Partei, um zu zeigen, dass man nicht in der SED sein wollte, aber die Partei bot für mich keine politische Identität mehr. Innerlich war ich auf einem anderen politischen Ufer angelangt, weil inzwischen ja ein Gegenmodell entstand. Über das Radio konnte man sich darüber gut informieren. In Westdeutschland konnten sie in ihren Zeitungen schreiben, was sie wollten. Immer wieder mal fuhren Freunde nach West-Berlin; sie lasen Zeitungen – offen wurde dort die schärfste Auseinandersetzung mit der SED geführt. Wie Reliquien wurden Zeitungen bei uns in der Universität weitergegeben und gelesen, bald auch der
Spiegel
. Möglicherweise war ich über die Entwicklungen in der Bundesrepublik besser informiert als manche politisch nicht interessierten Kommilitonen in Westdeutschland.
LINDNER
Die Bundesrepublik war also Ihr Staat, nicht die DDR . Und in diesen Staat, die gewählte politische Heimat, machten Sie sich dann auf.
GENSCHER
Zunächst nach West-Berlin und dann nach Bremen, um die Ausbildung als Referendar fortzusetzen und abzuschließen. Meine Mutter blieb zunächst noch in Halle. Ich ging am 20 . August 1952 von dort weg. Ich kam am Anhalter Bahnhof in Berlin an. Besser gesagt, in seinen Trümmern. Der Bahnhof war Territorium der DDR . Wenn man zwei Stufen nach unten ging, stand man im englischen Sektor von Berlin. Als ich meinen Fuß von der letzten Stufe herunter auf den Erdboden setzte, wusste ich, jetzt bist du im Westen angekommen.
Nachdem ich in Bremen Fuß gefasst hatte und auch bei einem Anwalt arbeiten konnte, sodass ich also über eine gewisse materielle Grundlage verfügte, kam meine Mutter nach. Sie traf gerade in Bremen ein, als sie noch im Zug hörte: Stalin ist tot. Als sie mich sah, fragte sie mich zweifelnd: »Ja, hab ich denn was falsch gemacht, dass ich ausgerechnet jetzt weggegangen bin, wo er doch nun tot ist?«
LINDNER
Vielleicht wird es drüben besser …
GENSCHER
Ich habe ihr widersprochen: »Es war bestimmt richtig, dass du gekommen bist, denn ich kann mir nicht vorstellen, dass sich da viel ändern wird.« Geändert hat sich auch nichts, aber natürlich war die Reaktion verständlich.
LINDNER
Kommen wir noch einmal zurück nach Bremen, denn dort wurden Sie in der FDP aktiv, sozusagen Ihr zweiter Schritt in die Politik.
GENSCHER
Und zwar sofort. Für mich war es die liberale Partei, die ich wirklich wollte. Also ging ich in Bremen zur Geschäftsstelle und erklärte denen, ich wolle meine Mitgliedschaft fortsetzen.
LINDNER
Und dann? Viele Ihrer Generation wandten sich damals enttäuscht oder verbittert ab von der Politik.
GENSCHER
Bei manchen Kommilitonen habe ich das erlebt. Aber die, die aus dem Osten kamen, waren doch stärker politisiert. Für das eigene Land etwas tun, sich mitverantwortlich fühlen, das war für viele ein Motiv. Auch ich empfand das schon 1945 so: Wir müssen jetzt etwas Neues machen, und zwar wir selber. Für mich kam als zweites politisches Motiv der Wunsch hinzu, die Vereinigung des geteilten Landes zu erreichen. Deshalb habe ich Leute vor allem danach beurteilt, wie sie zur Frage der deutschen Teilung standen. Ich war zum Beispiel zur Ausbildung bei der Staatsanwaltschaft; in Halle gab es nur noch einen Volljuristen als Staatsanwalt, alle anderen waren »Volksstaatsanwälte«. Ich erreichte es, dass ich zu ihm kam: Dr. Geissler, ehemals Oberbürgermeister von Gleiwitz, bis die Nazis kamen, ein Zentrums-Mann. »Mit Konrad Adenauer, Herr Genscher, müssen wir vorsichtig sein«, sagte er mir, »der
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