Brückenschläge: Zwei Generationen, eine Leidenschaft (German Edition)
Zeitpunkt, da sich zwei junge Menschen, ein Russe und ein Deutscher, gegenseitig das Leben schenkten. Dann machte ich einen Sprung nach vorn und schlug die offen stehende Tür zurück und mit ihr mein Gegenüber. In diesem Moment schon erschienen über dem Hoftor vier, fünf russische Stahlhelme. Der russische Angriff hatte begonnen. Ich schlug Alarm und konnte im Dunkel der Nacht den Schüssen der in den Hof eindringenden Rotarmisten entgehen. Geblieben ist die Erinnerung an den jungen Russen, mit dem ich wenige Sekunden meines Lebens schicksalhaft verbunden war und den ich nun als meinen »Iwan« immer in meinem Bewusstsein haben würde, auch als ständige Mahnung.
LINDNER
Fühlten Sie sich besiegt oder befreit?
GENSCHER
Ich fühlte Dankbarkeit. Dankbarkeit, überlebt zu haben. Dankbarkeit, nicht in russische, sondern in amerikanische Gefangenschaft geraten zu sein. Dankbarkeit, dass Hitler-Deutschland nun vorbei war, insoweit auch befreit. Damals ahnte ich noch nicht, dass es schon wenige Tage später eine sowjetische Besatzungszone geben würde, für die galt: befreit ohne frei zu sein.
LINDNER
In diesem Moment hat für Sie schon ein neues Deutschland begonnen?
GENSCHER
Das haben wir so gespürt, ja. Als wir kurz zuvor südlich von Berlin nach Westen marschierten – immer nur nachts, weil die russischen Jagdbomber am Tage die Straßen beherrschten –, mussten wir plötzlich anhalten. Ein Motorradfahrer kam mit einer Meldung an unseren Kommandeur, das Bataillon – noch etwa 80 Mann – stand um ihn herum. Wir wurden informiert, dass Hitler tot war. Wenck teilte uns das nicht so schwülstig mit wie Dönitz es getan hatte, der vom Führer sprach, der mit der Waffe in der Hand bis zum letzten Atemzug kämpfend gestorben sei. Wencks Tagesbefehl lautete: »Soldaten der 12 . Armee: Der Führer ist tot. Ab heute wird die Ehrenbezeigung wieder durch Anlegen der rechten Hand an die Kopfbedeckung erwiesen. Wenck, General der Panzertruppen.«
Man muss dazu wissen, dass nach dem Attentat vom 20 . Juli die Wehrmacht mit dem Hitlergruß salutieren musste, was als Demütigung gedacht war. Jetzt werde wieder richtig gegrüßt, das war Wencks einzige Bemerkung zu Hitlers Tod. Das zeigte, was der Mann dachte. Mir hat das einen unglaublichen Vertrauensschub gegeben – einer wie er, der wird es schaffen, uns hier rauszuholen. Trotzdem, die Gefühle waren gemischt, was wird aus uns, was aus unserem Land? Schließlich wussten wir, dass in Deutschland Schreckliches geschehen war.
LINDNER
Richard von Weizsäcker hat in seiner Rede auch gesagt: Wer sich Augen und Ohren nicht zuhielt, wusste, »dass Deportationszüge rollen«. Wussten Sie das auch?
GENSCHER
Sie müssen sich vorstellen, Herr Lindner: Ich hatte damals das Wort Auschwitz noch nicht gehört, aber »Judenverfolgung« reichte ja auch. Es reichte, was wir gesehen hatten: Menschen, die mit einem Stern gebrandmarkt wurden. Menschen, die weggebracht wurden, weil sie Juden waren. Es reichte, was wir hörten: von den Zuständen an der russischen Front, zum Beispiel. Von den Gefangenenlagern, in denen in den ersten Kriegsjahren viele russische Kriegsgefangene verhungerten. Wir hatten selbst die russischen Kriegsgefangenen erlebt, die sich freiwillig zur Flak gemeldet hatten, um dem Hungertod zu entgehen. Was muss die Menschen dazu bewegt haben … Ich habe verstanden, dass so etwas Rachegefühle hervorrufen wird. Aber was würde das konkret bedeuten? Ich konnte mir sicher nicht vorstellen, dass es zu einer Teilung Deutschlands führen würde. Für mich war das
ein
Land.
Wir gehörten nicht zur Kategorie der Verantwortlichen im Dritten Reich, aber wir fühlten uns in der Verantwortung unseres Volkes stehend – im Guten, aber auch im Schlechten, in dem unendlich Schlechten. Und uns erfasste die Gewissheit, dass unser Land jetzt zur Rechenschaft gezogen werde, wie immer die ausfallen würde. Es gab für mich persönlich aber auch einen Moment großer Erleichterung, als ich durch einen Zufall erfuhr, dass Halle von den Amerikanern besetzt worden war …
LINDNER
Und nicht von den Russen …
GENSCHER
… in dem Moment wusste ich, meine Mutter war nicht dem ausgesetzt, was viele andere Frauen bei der Besetzung durch die Rote Armee erleiden mussten. Aber hatte sie die Kampfhandlungen überhaupt überlebt? Die Frage nach ihrem Schicksal ließ mich nicht los. Und eine andere Frage auch nicht: Ist es möglich, hier abzuhauen? Wir marschierten durch Tangermünde
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