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Brückenschläge: Zwei Generationen, eine Leidenschaft (German Edition)

Brückenschläge: Zwei Generationen, eine Leidenschaft (German Edition)

Titel: Brückenschläge: Zwei Generationen, eine Leidenschaft (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Lindner , Hans-Dietrich Genscher
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in die Gefangenschaft, rechts und links amerikanische Soldaten. Aber wenn sich eine Armee auflöst, herrscht auch totales Chaos. Das war eine Chance. Ein Kamerad, der neben mir lief und mit dem ich von Anfang an auf einer Stube gewesen war, fragte mich: »Du bist so nachdenklich, was geht dir durch den Kopf?«
    »Ich habe gerade zwei Entscheidungen getroffen«, sagte ich.
    »Und welche sind das?«
    »Erstens: Ich haue hier so schnell wie möglich ab.«
    Er antwortete: »Da komme ich mit. Und die zweite?«
    »Ab sofort mache ich nur noch, was ich gerne mache.« Das hieß, ich will nicht mehr geschoben werden, Luftwaffenhelfer, Reichsarbeitsdienst, Wehrmachtssoldat – jetzt will ich tun, was ich will. Das habe ich weitgehend durchgehalten. Heute würde ich sagen, jetzt will ich für mich Verantwortung übernehmen. Das ist es ja, was den Liberalen ausmacht: Freiheit wollen, auch um selbstverantwortlich handeln zu können. Freiheit ohne Verantwortung bedeutet Zügellosigkeit. Das Bewusstsein, dass Freiheit und Verantwortung siamesische Zwillinge sind oder auch zwei Seiten derselben Sache, bedeutet die ständige Herausforderung zum verantwortlichen Handeln in Freiheit.
    LINDNER
    Nicht nur Befehle empfangen, sondern selbst über sein Leben bestimmen. War das vielleicht der Moment, in dem sie nicht nur zu einem selbstbestimmten, sondern auch zu einem politischen jungen Mann geworden sind?
    GENSCHER
    Nein, nicht bewusst, das wäre falsch. Gestatten Sie mir eine Rückblende in die Zeit, als ich ein kleiner Junge war und in das Milieu, in dem ich aufgewachsen bin. Mein Großvater war für mich Vaterersatz, denn mein Vater starb, als ich neun Jahre alt war. Der Großvater war mit dem Dorfpfarrer verbunden und der gehörte zur Bekennenden Kirche. Auf dem Dorf hatte das eine große Bedeutung. Immer wieder wurde dieser Pfarrer von der Gestapo vernommen und manchmal auch für kürzere oder längere Zeit inhaftiert. Das ständige Bemühen meines Großvaters als verantwortlicher Laie in der Gemeinde um die Freilassung des Pfarrers hat auch meine Familie geprägt. An meinem ersten Schultag – nach Ostern 1933  – verlangte der Lehrer, der sich schnell umgestellt hatte: »Jetzt treten wir mal an wie die Hitler-Jugend!« Mit meinen sechs Jahren erwiderte ich: »Da kann ich nicht mitmachen, wir sind deutsch-national.« Woraufhin der Mitschüler neben mir rief: »Da kann ich auch nicht mitmachen, wir sind Kommune.« Der Vater war Kommunist.
    Am Abend bekam mein Vater im Kegelclub vom Lehrer zu hören: »Deinen Sohn hast du aber schon ganz schön indoktriniert. Der hat sich heute geweigert, mitzumarschieren wie die Hitler-Jugend.« In der Nacht kam mein Vater vom Kegeln zurück, weckte mich und drückte mir einen »Kanaldeckel« in die Hand. Das war ein Fünfmarkstück, die nannte er so, es war die höchste Auszeichnung, die in der Familie verliehen werden konnte. Zu mir sagte er nur: »Hier haste einen Kanaldeckel für das, was du heute in der Schule zum Lehrer gesagt hast.«
    So war mein Vater. Von meinem Großvater habe ich meine Verbundenheit zu Frankreich. Er hat dort Ende des 19 . Jahrhunderts seinen Wehrdienst abgeleistet, im lothringischen Dietenhofen. Seitdem bewunderte er die französische Kultur und litt darunter, dass er als Ältester den Bauernhof übernehmen musste. Er hätte lieber studiert, musste aber mit dem »Einjährigen« von der Schule abgehen, weil der Urgroßvater festgelegt hatte: »Es ist bei uns Sitte, dass der Älteste den Hof übernimmt.«
    Mein Großvater ist 1947 gestorben. Ich erinnere mich, dass ich ihn am 1 . Januar 1946 auf dem Land besucht habe, um ihm zum neuen Jahr alles Gute zu wünschen. Ein sowjetischer Major – ein Studienrat für Germanistik in Leningrad, der sehr gut Deutsch sprach – war mit drei Mann bei meinem Großvater einquartiert worden. Als der Major es nicht hören konnte, sagte ich: »Hoffentlich hauen die bald ab!«
    »Mein Junge, die bleiben fünfzig Jahre«, erwiderte mir mein Großvater.
    »Das kann ich mir nicht vorstellen«, sagte ich.
    »Warte ab«, gab er zurück. Er hat fast recht behalten.
    Ich denke manchmal, vielleicht sieht er, dass ich ein wenig dazu beigetragen habe, dass es nicht ganz fünfzig Jahre geworden sind.
    LINDNER
    Noch einmal zurück zu 1945 : An den »Endsieg« haben Sie nicht geglaubt?
    GENSCHER
    Ich erzähle Ihnen eine Geschichte aus dem Jahr 1944 . Damals hatte ich beim Arbeitsdienst einen Kameraden, dem wir den Spitznamen »Stalin« gegeben

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