Brüder der Drachen
Tagereise lag Lornmund hinter ihm, und von dort wäre er innerhalb weniger Tage zurück in Car-Tiatha. Keiner würde ihm einen ernsthaften Vorwurf machen können, auch wenn er seinen Auftrag nicht erfüllt hätte. Aber Deryn wusste, dass er es sich selbst nicht verzeihen würde, wenn er seinen Freund nun ziehen ließe.
Ein flüchtiges Lächeln schlich sich auf Deryns Lippen, als er an ihre gemeinsame Kindheit dachte, dann atmete er hörbar aus. Längst war der Drache als winziges Pünktchen am Horizont verschwunden. Während Deryn seinen Gedanken nachgegangen war, hatte sein Craith geduldig gewartet, den lang gestreckten Körper flach auf dem Boden abgelegt. Nun schien er zu spüren, dass eine Entscheidung bevorstand. Er drehte den Kopf und ließ seine lange fleischige Zunge nach vorne schnellen, wickelte sie halb um Deryns Kopf. Dieser erwiderte die Liebkosung, indem er die Flanke der Echse tätschelte.
»Nun, mein Freund«, sagte er. »Es ist Zeit, dass wir weiterziehen.«
Er biss in eine der Carys-Zwiebeln, die der Wirt des letzten Gasthofs ihm verkauft hatte, und sogleich verzog er angewidert das Gesicht. Der Geschmack war furchtbar, doch der Volksmund berichtete, dass der Geruch die wilden Tarth-Echsen fernhielt, denen man abseits der bewohnten Landstriche überall begegnen konnte. Schließlich schwang Deryn sich in den Sattel und trieb sein Reittier zu einem schnellen Schritt an – weiter nach Westen, in das Land der Drachen.
*
Tan-Thalion stand nachdenklich vor der großen Landkarte, die auf einem schrägen Pult vor ihm ausgebreitet lag. Müde und gereizt fasste der alte Zauberer nach dem silbernen Stirnreif, der auf seinen weißen Haaren ruhte, und achtlos warf er das kostbare Schmuckstück zwischen die Papiere und Pergamente, die den nahe stehenden Tisch bedeckten. Das Licht der Sonne schien durch das westliche Fenster in die Turmkammer hinein und leuchtete auf dem klaren Kristall, der den Stirnreif zierte. Doch der Reif war kein bloßes Schmuckstück, denn er zeichnete seinen Träger als Hofzauberer am Königshof in Car-Tiatha aus. Ein zweifelhaftes Privileg, denn in den letzten Wochen hatten die Wünsche des Königs dem Zauberer jegliche Zeit für seine anderen Pflichten geraubt.
Obwohl die goldene Kette, die Tan-Thalion um seinen Hals trug, wesentlich schwerer war als der dünne Stirnreif, empfand der Zauberer sie als die geringere Last. Lange Zeit hatte er dafür gearbeitet, sie tragen zu dürfen, denn sie gebührte nur dem Meister der Magiergilde von Car-Tiatha. Die Prunkkette war unter dem wallenden, grauweißen Bart des Zauberers verborgen, doch von Zeit zu Zeit hörte man einen metallischen Klang, wenn die massiven Glieder aneinanderstießen.
Mit einem Stirnrunzeln streckte Tan-Thalion eine Hand nach vorne und strich mit dem Zeigefinger über die Landkarte. Alle großen Städte des Landes waren darauf verzeichnet: Car-Tiatha, die Hauptstadt des Ostreiches, die einst das gesamte Reich der Menschen beherrscht hatte. Car-Faladhon, Car-Adonath, Lornmund und andere Städte, die immer noch treu zu König Gweregon standen. Im Westen Car-Osidia, Car-Siradhon und Car-Dhiorath, die abtrünnigen Städte, die nun den Kern des Westreiches bildeten. Dazwischen lag das Land der Drachen – ein unwirtliches Land, beherrscht von den mächtigen Gipfeln der Drachenberge. Auch der Berg des Feuers war auf der Karte verzeichnet, von dem die Legende sagte, dass in ihm die Drachen aus dem Feuer der Erde geboren worden waren. Nördlich der Berge lag Car-Carioth – die letzte Stadt der Menschen, die der Belagerung durch die Drachen standhielt. Und noch weiter im Norden lagen die drei zerstörten Küstenstädte – Car-Elnath, Car-Turagh und Car-Beridon, von denen nichts geblieben war als unwirtliche Ruinenfelder, in denen die Geister ihrer einstigen Bewohner umgingen. Doch wenn die Gerüchte wahr waren, dann lebten auch in diesen Städten noch Menschen – Ausgestoßene, die die Gesellschaft von Geistern und Drachen in Kauf nahmen, wenn sie nur dem Gesetz des Königs entkamen.
In die Karte waren überdies viele Orte eingetragen, an denen es bestätigte Sichtungen von Drachen gegeben hatte. Die meisten dieser Beobachtungen waren den Rittern der Drachengilde zu verdanken, denn seit vielen Jahrzehnten hatte es sich dieser Ritterbund zur Aufgabe gemacht, die Wege durchs Drachenland sicher zu machen und für die Gesandten des Königs offen zu halten. Tan-Thalion stand in engem Kontakt mit dem Meister der Drachengilde und
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