Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety

Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety

Titel: Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hilary Mantel
Vom Netzwerk:
Meinung«, sagte Lucile, »dass ich alt genug bin, um ohne meine Mutter auszukommen.«
    Sie ließ sich zu einem Glas Eiswasser überreden. Es brannte ihr in der Hand, schmerzte bis tief in den Magen. Um viertel nach fünf kam Camille heim und griff in aller Eile zu Feder und Tinte. »Ich muss zu den Jakobinern«, sagte er. Das bedeutete sechs Uhr. Sie beugte sich über seine Schulter und sah zu, wie die Seite sich mit seinen Krakeln füllte. »Nie hat man Zeit für die Korrekturen …« Er kritzelte. »Lolotte … was ist los?«
    Sie setzte sich hin und lachte unsicher: Was soll los sein?
    »Du bist eine furchtbare Lügnerin.« Er strich ein paar Zeilen weg. »Ich meine, du bist nicht gut darin.«
    »Caroline Rémy war hier.«
    »Ah.« Ein leicht verächtlicher Ausdruck glitt über seine Züge.
    »Ich möchte dich etwas fragen. Es kann sein, dass dir die Antwort ein bisschen schwerfällt.«
    »Probier’s.« Er blickte nicht auf.
    »Hattest du eine Affäre mit ihr?«
    Mit gerunzelter Stirn starrte er auf das Blatt. »Das klingt immer noch verkehrt.« Er seufzte und schrieb etwas längs an den Rand. »Ich hatte mit allen und jeder Affären, das müsstest du mittlerweile doch wissen.«
    »Aber ich möchte, dass du es mir sagst.«
    »Warum?«
    »Warum was?«
    »Warum möchtest du das?«
    »Weiß ich auch nicht.«
    Er riss das Blatt in der Mitte durch und begann gleich das nächste zu bekritzeln. »Nicht gerade die sinnvollste aller Unterhaltungen.« Er schrieb etwa eine Minute. »Hat sie gesagt, es wäre etwas gewesen?«
    »Nicht direkt.«
    »Wie kommst du dann auf die Idee?« Er suchte oben an der Decke nach einem Synonym, und als er den Kopf zurücklegte, glänzte sein Haar im fahlroten Winterlicht.
    »Sie hat es durchklingen lassen.«
    »Vielleicht hast du sie falsch verstanden.«
    »Könntest du es bitte einfach leugnen?«
    »Ich halte es durchaus für denkbar, dass ich irgendwann eine Nacht mit ihr verbracht habe, aber ich habe keine genauere Erinnerung daran.« Er hatte das Wort gefunden und griff nach einem neuen Blatt Papier.
    »Wie kannst du keine genauere Erinnerung daran haben? So etwas muss man doch wissen.«
    »Wieso muss man das wissen? Nicht jeder hält es wie du für die höchste aller menschlichen Betätigungen.«
    »Sich nicht zu erinnern, ist wohl die größte Brüskierung überhaupt.«
    »Möglich. Hast du die letzte Ausgabe von Brissot gesehen?«
    »Da. Unter deinen Papieren.«
    »Ah, ja.«
    »Und du erinnerst dich wirklich nicht?«
    »Ich bin sehr zerstreut, wie jeder dir bestätigen wird. Es muss ja auch keine ganze Nacht gewesen sein. Vielleicht war es ein Nachmittag. Oder nur ein paar Minuten, oder auch gar nichts. Womöglich habe ich sie mit jemandem verwechselt. Womöglich habe ich an etwas anderes gedacht.«
    Sie lachte.
    »Ich weiß nicht, ob du das lustig finden darfst. Solltest du nicht lieber schockiert sein?«
    »Sie findet dich sehr attraktiv.«
    »Welch erlösende Kunde. Ich würde mich zerfleischen vor Verzweiflung, wenn es anders wäre. Die Seite, die ich suche, fehlt. Ich muss sie vor Wut ins Feuer geschmissen haben. Einen literarischen Jockel nennt Mirabeau Brissot. Ich bin nicht ganz sicher, was das sein soll, aber er hält es eindeutig für eine vernichtende Beleidigung.«
    »Sie hat mir etwas über einen Rechtsanwalt erzählt, den du einmal gekannt hast.«
    »Welchen von den fünfhundert?«
    Aber nun war er in der Defensive. Sie antwortete nicht. Er wischte die Feder sorgfältig ab, legte sie weg. Unter gesenkten Lidern hervor warf er ihr einen vorsichtigen Seitenblick zu. Er lächelte verhalten.
    »Mein Gott, schau mich nicht so an«, sagte sie. »Du schaust, als wolltest du mir erzählen, wie sehr du es genossen hast. Wissen die Leute davon?«
    »Manche offenbar schon.«
    »Weiß meine Mutter es?«
    Keine Antwort.
    »Warum wusste ich nichts darüber?«
    »Gute Frage. Vielleicht deshalb, weil du damals höchstens zehn warst. Wir kannten uns nicht. Ich wüsste nicht, wie man das Thema hätte anschneiden sollen.«
    »Ach. Sie hat mir nicht gesagt, dass es so lange her ist.«
    »Nein, sie hat dir alles so gesagt, wie es ihr am besten in den Kram passt. Lolotte, spielt es eine so große Rolle?«
    »Wahrscheinlich nicht. Dann wird er wohl nett gewesen sein?«
    »Ja, das war er.« Welche Erleichterung, das sagen zu können. »Er war sogar extrem nett zu mir. Und irgendwie schien es mir keine große Sache, weißt du.«
    Sie starrte ihn an. Er ist wirklich ein Phänomen, dachte sie.

Weitere Kostenlose Bücher