Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety
berührte ihn an der Schulter, ganz leicht nur, mit der Spitze des Mittelfingers. »Wir bewundern deine Prinzipien im Allgemeinen, unterstützen deine Handlungen und Schriften im Besonderen – und werden es schon darum niemals verabsäumen, dich hervorragend wegkommen zu lassen.«
»Aber trotzdem hast du jetzt versagt, etwa nicht?« Robespierre wich zurück. Er war erzürnt. »Du darfst die anstehenden Aufgaben nicht immer so aus den Augen verlieren. Du bist so unachtsam, so unzuverlässig.«
»Ja, es tut mir leid.«
In Lucile flackerte ein Fünkchen Zorn auf.
»Max, er ist kein Schulkind.«
»Ich schreibe den Artikel gleich heute Nachmittag«, beteuerte Camille.
»Und heute Abend kommst du zu den Jakobinern.«
»Ja, natürlich.«
»Sie sind ein richtiger Despot«, sagte sie.
»O nein, Lucile.« Robespierre sah sie mit ernster Miene an. Seine Stimme verlor ihre Schärfe. »Aber Camille muss man hart anpacken, er ist so ein Träumer. Ich bin mir sicher«, er schlug die Augen nieder, »wenn ich frisch mit Ihnen verheiratet wäre, Lucile, wäre ich auch versucht, meine Zeit Ihnen zu widmen, und brächte nicht so viel Aufmerksamkeit für meine Arbeit auf, wie ich sollte. Und Camille ist hoffnungslos darin, einer Versuchung zu widerstehen, das war schon immer so. Aber ich bin kein Despot, sagen Sie das nicht.«
»Gut«, sagte sie, »die lange Bekanntschaft rechtfertigt einiges. Aber Ihr Ton. Ihre ganze Art. Warum sparen Sie sich die nicht für die Rechte auf? Stauchen Sie die zusammen.«
Sein Gesicht verhärtete sich: abwehrend, gequält. Sie begriff, warum Camille sich lieber entschuldigte. »Oh«, sagte er, »Camille mag es, wenn man ihn herumschubst. Sein Naturell verlangt danach. Fragen Sie Danton. Auf Wiedersehen. Schreib es heute Nachmittag, ja?«, fügte er sanft hinzu.
»Tja«, sagte sie. Sie wechselten Blicke. »Das war deutlich. Was meint er damit?«
»Nichts. Es hat ihn nur getroffen, dass du ihn kritisiert hast.«
»Darf man ihn nicht kritisieren?«
»Nein. Er nimmt es sich zu sehr zu Herzen, es verunsichert ihn. Außerdem hatte er recht. Ich hätte an den Artikel denken müssen. Du darfst nicht zu hart über ihn urteilen. Er ist nur aus Schüchternheit schroff.«
»Die könnte er langsam abgelegt haben. Mit anderen ist man auch nicht so nachsichtig. Außerdem sagst du doch immer, er hätte keine Schwächen.«
»Von Tag zu Tag betrachtet, hat er Schwächen. Im Ganzen gesehen hat er keine.«
»Vielleicht verlässt du mich irgendwann«, sagte sie unvermittelt. »Wegen einer anderen.«
»Wie kommst du darauf?«
»Ich bin in so einer Stimmung heute. Ich muss mir immer vorstellen, was passieren könnte. Weil ich nie für möglich gehalten habe, dass man so glücklich sein kann – dass alles gut wird.«
»Findest du denn, dass dein Leben bisher unglücklich war?«
Sosehr der Schein auch gegen sie sprach, sagte sie doch wahrheitsgemäß Ja.
»Ich auch. Aber von jetzt an nicht mehr.«
»Dir könnte ein Dachziegel auf den Kopf fallen. Du könntest krank werden. Deine Schwester Henriette ist an Schwindsucht gestorben.« Sie musterte ihn, als könnte sie durch die Haut hindurch das Gewebe sehen und bösen Wendungen vorbeugen.
Er wandte sich ab; er hatte das Gefühl, es nicht ertragen zu können. Wenn nun Glücklichsein Gewohnheitssache war oder eine angeborene Gabe? Oder etwas, was man als Kind lernt, eine Art Sprache, schwerer als Griechisch oder Latein, die man halbwegs beherrschen sollte, bis man sieben ist? Was war, wenn man sie nicht beherrschte? Wenn man auf irgendeine Weise glücksunfähig war, glückstaub? Es gab ja Analphabeten, die sich ihrer Schwäche so schämten, dass sie vor allen so taten, als könnten sie lesen. Früher oder später kam es natürlich ans Licht. Doch solange man noch wacker den Schein wahrte, bestand immer die Chance, dass der Groschen plötzlich fiel, und dann war man gerettet. Ebenso gut, dachte er, konnte der Glücksanalphabet hoffen, dass sich ihm, während er mit ein paar Brocken radebrechte – Floskeln, wie man sie in Reisehandbüchern fand –, urplötzlich das Geheimnis von Grammatik und Syntax erschloss. Das ist schön und gut, dachte er, aber es könnte Jahre dauern. Er hatte das gleiche Problem wie Lucile: Woher wussten sie, dass sie lange genug leben würden, um jemals fließend zu werden?
L’ami du peuple, Nr. 497, J.-P. Marat, Herausgeber:
… Beruft schnellstens ein Militärtribunal, einen obersten Diktator … Ihr seid auf alle Zeit
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