Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety
gelegt hat, können wir unsere Lage in Augenschein nehmen. Nun, da auch der letzte rote Ziegel auf dem Dach des Neuen Hauses liegt, nun, da der Ehevertrag vier Jahre alt ist. Die Stadt riecht nach Sommer, nicht angenehm also, aber nicht anders als letztes Jahr und nicht anders als in den kommenden Jahren. Das Neue Haus riecht nach Harz und Wachspolitur, der schweflige Geruch dräuender Familienzwistigkeiten liegt in der Luft.
Maître Desmoulins’ Arbeitszimmer befindet sich auf der anderen Seite des Hofes, im Alten Haus, das direkt an der Straße steht. Wenn man sich auf die Place des Armes stellt und die schmale weiße Fassade hinaufblickt, kann man oft seine schemenhafte Gestalt hinter den Jalousien im ersten Stock erkennen. Er scheint auf die Straße hinunterzuschauen, doch im Geiste, behaupten manche, ist er ganz woanders. Sie haben recht, und der Ort, an dem er weilt, lässt sich exakt benennen. Es ist Paris.
Leibhaftig ist er im Moment gerade auf dem Weg nach oben. Sein dreijähriger Sohn folgt ihm. Da er davon ausgeht, dass er das Kind noch die nächsten zwanzig Jahre am Bein haben wird, bringt es nichts, sich zu beklagen. Die Nachmittagshitze hängt in den Straßen. Die Kleinen, Henriette und Elisabeth, schlafen in ihren Bettchen. Madeleine beschimpft die Wäschemagd mit einer Redegewandtheit und Gehässigkeit, die nicht recht zu ihrer vornehmen Erziehung und ihrer Schwangerschaft passen wollen. Er schließt die Tür.
Kaum sitzt er an seinem Schreibtisch, wandern seine Gedanken wieder einmal in Richtung Paris. Das kommt häufig vor. Er lässt sich darauf ein, sieht sich mit einem mühsam errungenen Freispruch auf der Treppe des königlichen Gerichtshofs stehen, inmitten einer Traube gratulierender Kollegen. Er gibt den Kollegen Namen und Gesichter. Wo ist Perrin an diesem Nachmittag? Wo Vinot? Er fährt jetzt zweimal im Jahr hin, und Vinot – der früher, als sie noch studierten, seinen Lebensplan mit ihm zu besprechen pflegte – ist vor einer Weile auf der Place Dauphine geradewegs an ihm vorbeimarschiert, hat ihn wie Luft behandelt.
Das war letztes Jahr, und jetzt haben wir August, im Jahr des Heils 1763. Wir befinden uns in Guise in der Picardie; er ist dreiunddreißig Jahre alt, Ehemann, Vater, Advokat, Amtmann, Ratsherr, ein Mann, der eine hohe Rechnung für ein neues Dach zu begleichen hat.
Er nimmt seine Geschäftsbücher heraus. Vor zwei Monaten hat Madeleines Familie endlich die letzte Rate der Mitgift gezahlt. Sie stellten es als eine Art schmeichelhaftes Versäumnis dar, wohlwissend, dass er ihnen schlecht das Gegenteil beweisen konnte: Bei einem Mann in seiner Position, dem die Aufträge nur so zuflössen, fielen die letzten paar Hundert doch sicherlich nicht ins Gewicht.
Das war ein typischer de-Viefville-Trick, gegen den er machtlos war. Sie nagelten ihn an den Mast, und er, zitternd vor Scham, reichte ihnen auch noch selbst die Nägel. Er war auf ihr Geheiß von Paris nach Hause zurückgekehrt, um alles für Madeleine auf den Weg zu bringen. Er hatte nicht geahnt, dass ihr dreißigster Geburtstag verstreichen würde, ehe ihre Familie seine Lebensumstände auch nur halbwegs akzeptabel fand.
Sie lenken und leiten, die de Viefvilles: kleine Städte, große Anwaltskanzleien. Die Familie ist weit verzweigt, über das ganze Arrondissement Laon, die ganze Picardie – ein Haufen eiskalter Gauner, ständig am Reden. Ein de Viefville ist Bürgermeister von Guise, ein anderer Mitglied jenes erlauchten Gerichtshofs, des Parlaments von Paris. De Viefvilles heiraten für gewöhnlich Godards; Madeleine ist väterlicherseits eine Godard. Dem Namen der Godards fehlt das begehrte Adelsprädikat; dessen ungeachtet bringen sie es im Leben gemeinhin zu etwas, und wenn man in Guise und Umgebung eine musikalische Soirée, ein Begräbnis oder ein Diner der Anwaltskammer besucht, ist immer irgendeiner von ihnen da, vor dem man das Knie beugen kann.
Die Damen der Familie glauben an jährliche Vermehrung, und Madeleine ist da keine Ausnahme, auch wenn sie erst so spät begonnen hat. Daher das Neue Haus.
Dieses Kind, das jetzt quer durchs Zimmer läuft und auf die Fensterbank krabbelt, ist sein ältestes. Seine erste Reaktion beim Anblick des Neugeborenen: Das ist nicht meins. Die Erklärung kam bei der Taufe, von den grinsenden Onkeln und gehässigen Tanten: Na, wenn du mal kein kleiner Godard bist! Ist er nicht bis in die Fingerspitzen ein Godard? Drei Wünsche, dachte Jean-Nicolas missmutig: Ratsherr
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