Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety
sowie, jünger als diese, einen Sohn. Zu Letzterem hatte er keine spezielle Haltung; allenfalls verspürte er etwas wie Erleichterung angesichts seines Geschlechts. Im Alter von vierzig Jahren starb M. Danton. Seine Witwe war schwanger, verlor das Kind jedoch. Später im Leben meinte Georges-Jacques, sich an seinen Vater zu erinnern. Über die Toten wurde in seiner Familie oft gesprochen. Er hatte diese Unterhaltungen aufgesogen und sie in etwas umgewandelt, das als Erinnerung durchging. Das war durchaus in Ordnung. Die Toten kommen nicht zurück, um zu mäkeln oder zu berichtigen.
M. Danton war Schreiber an einem der örtlichen Gerichte gewesen. Es war etwas Geld vorhanden, etwas Grundbesitz, ein paar Häuser. Madame kam zurecht. Sie war eine herrische kleine Frau, die das Leben mit ausgefahrenen Ellenbogen anging. Ihre Schwäger kamen jeden Sonntag vorbei und erteilten ihr Rat.
Die Kinder verwilderten. Sie machten die Zäune anderer Leute kaputt, jagten Schafe und trieben auch sonst so manchen Unfug, den man auf dem Land eben treiben kann. Zur Rede gestellt, gaben sie freche Antworten. Und die Kinder anderer Familien warfen sie in den Fluss.
»Dass Mädchen sich so aufführen!«, sagte M.Camus, Madames Bruder.
»Das sind nicht die Mädchen«, sagte Madame. »Es ist Georges-Jacques. Aber sie müssen sich nun mal irgendwie durchschlagen.«
»Bloß sind wir hier nicht im Dschungel«, sagte M.Camus. »Oder in Patagonien. Wir sind in Arcis-sur-Aube.«
Arcis ist grün, das umliegende Land ist flach und gelb. Das Leben schreitet gemächlich voran. M.Camus betrachtet das Kind, das draußen vor dem Fenster Steine gegen die Scheune wirft.
»Der Junge ist wild und viel zu dick«, sagt M.Camus. »Wieso hat er einen Verband um den Kopf?«
»Warum sollte ich dir das verraten? Du wirst ihn nur schlechtmachen.«
Zwei Tage zuvor hatte eines der Mädchen ihn in der Wärme des frühen Abends nach Hause gebracht. Sie seien auf der Bullenweide gewesen, erzählte sie, und hätten Urchristen gespielt. So gab Anne Madeleine dem Ganzen einen frommen Anstrich; natürlich war es vorstellbar, dass nicht alle der frühkirchlichen Märtyrer bereit gewesen waren, sich aufspießen zu lassen, und dass einige sich wie Georges-Jacques mit einem spitzen Stock bewaffnet hatten. Das Horn des Bullen hatte sein halbes Gesicht aufgerissen. Voller Panik hatte seine Mutter seinen Kopf in die Hände genommen, das Fleisch zusammengeschoben und wider alle Vernunft gehofft, dass es halten würde. Sie legte ihm einen straffen Verband am Gesicht an und bandagierte zusätzlich seinen Kopf, um die Beulen und Risse auf der Stirn abzudecken. Zwei Tage blieb er derart behelmt im Haus und brütete in aggressiver Stimmung vor sich hin. Er klagte über Kopfschmerzen. Heute war der dritte Tag.
Vierundzwanzig Stunden nachdem M.Camus gegangen war, stand Mme Danton wieder am Fenster und sah – benommen, wie in einem grässlichen, sich wiederholenden Traum – zu, wie die sterblichen Überreste ihres Sohnes von den Feldern herangeschafft wurden. Ein Landarbeiter trug den schweren Körper in seinen Armen; sie sah, wie seine Knie unter dem Gewicht einknickten. Zwei Hunde liefen mit eingeklemmtem Schwanz hinterher, und das Schlusslicht bildete die vor Wut und Verzweiflung laut heulende Anne Madeleine.
Von nahem sah Mme Danton, dass der Mann Tränen in den Augen hatte. »Wir werden diesen verdammten Bullen schlachten müssen«, sagte er. Sie gingen in die Küche. Alles war voll Blut. Auf dem Hemd des Mannes war Blut, auf dem Fell des Hundes, auf Anne Madeleines Schürze, ja selbst auf ihrem Haar. Es lief auf den Boden. Sie suchte nach etwas – einer Decke, einem sauberen Tuch –, worauf sie den Leichnam ihres einzigen Sohnes betten konnte. Der Arbeiter taumelte erschöpft gegen die Wand und hinterließ einen langen rostfarbenen Streifen auf dem Putz.
»Legen Sie ihn auf den Boden«, sagte sie.
Als die kalten Fliesen seine Wange berührten, stöhnte der Junge leise, und da erst erkannte sie, dass er gar nicht tot war. Anne Madeleine sagte mit monotoner Stimme De profundis auf: »Von einer Morgenwache bis zur andern/Israel hoffe auf den HERRN .« Ihre Mutter gab ihr eine Ohrfeige, damit sie aufhörte. Dann flog ein Huhn durch die Tür herein und setzte sich auf ihren Fuß.
»Schlagen Sie das Mädchen nicht«, sagte der Mann. »Sie hat ihn unter den Beinen des Bullen hervorgezerrt.«
Georges-Jacques öffnete die Augen und erbrach sich. Sie hießen ihn
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