Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety
ein Bild der Verwüstung, das Getreide lag plattgewalzt auf den Feldern. Den ganzen Tag trommelte es gegen Fenster und Türen, wie noch keiner es je erlebt hatte; in der Nacht vom 13. auf den 14. schlief eine verschreckte Bevölkerung in tausend Ängsten. Am Morgen Stille; es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis die Stadt wieder zum Leben erwachte. Es war heiß, die Menschen blinzelten benommen in ein splittriges Licht, als stünde ganz Frankreich unter Wasser.
Ein Jahr bis zum Umbruch: Gabrielle stand vor dem Spiegel und zupfte an ihrem Hut. Sie wollten Tuch kaufen gehen, ein paar Ellen guten Wollstoff für Louises Winterkleider. Mme Gély hatte mit derlei Sperenzien nichts im Sinn, aber Louise hatte ihre Wintergarderobe gern bis Ende August vollständig im Schrank hängen; wer konnte wissen, was sich das Wetter als Nächstes einfallen ließ, sagte sie, und wenn es plötzlich kalt würde, stünde sie dumm da, weil sie seit letztem Jahr so gewachsen war. Nicht dass ich im Winter irgendwo hingehen würde, sagte sie, aber vielleicht nehmen Sie mich ja mit zu Ihrer Mutter nach Fontenay. Fontenay, sagte sie, ist auf dem Land.
Jemand war an der Tür. »Komm nur rein, Louise«, rief sie, aber es kam niemand. Catherine, das Hausmädchen, wiegte den schreienden Säugling. Sie lief selbst zur Tür, den Hut in der Hand. Vor ihr stand eine junge Frau, die sie nicht kannte. Sie sah Gabrielle an, sah den Hut und machte einen Rückwärtsschritt. »Sie wollen ausgehen.«
»Was kann ich für Sie tun?«
Das Mädchen blickte rasch über die Schulter. »Darf ich für fünf Minuten hereinkommen? Ich weiß, das klingt komisch, aber es kann gut sein, dass die Dienstboten Anweisung haben, mir zu folgen.«
Gabrielle gab die Tür frei. Die junge Frau trat ein. Sie nahm ihren breitkrempigen Hut ab, schüttelte das dunkle Haar. Ihre eng anliegende blaue Leinenjacke hob die Wespentaille und die biegsame Figur hervor. Sie fuhr sich mit der Hand durchs Haar und reckte das Kinn, recht selbstbewusst eigentlich, warf einen Blick auf ihr Bild im Spiegel. Gabrielle fühlte sich plötzlich plump und schlecht angezogen, eine Frau, der man noch die Schwangerschaft ansah. »Ich könnte mir vorstellen«, sagte sie, »dass Sie Lucile sind.«
»Ich bin gekommen«, sagte Lucile, »weil alles so furchtbar ist und ich unbedingt mit jemandem reden muss, und Camille hat mir so viel von Ihnen erzählt, und er hat mir gesagt, wie nett und mitfühlend Sie sind und dass ich Sie auch leiden mögen werde.«
Gabrielle ging innerlich auf Abwehr. Was für ein niedriger, gemeiner, verabscheuungswürdiger Trick, dachte sie: Wenn er zu ihr so von mir geredet hat, wie kann ich ihr dann meine Meinung über ihn sagen? Sie legte ihren Hut auf einen Stuhl. »Catherine, lauf hoch und sag Bescheid, dass es etwas später wird. Und dann bring uns eine Limonade, ja? Warm heute, nicht wahr?« Lucile erwiderte ihren Blick: Augen wie Mitternachtsblumen. »Also, Mlle Duplessis – haben Sie sich mit Ihren Eltern überworfen?«
Lucile setzte sich auf die Kante eines Sessels. »Mein Vater geht durchs Haus und sagt: ›Gilt das Machtwort eines Vaters denn gar nichts mehr?‹ In einem Singsang wie ein Klagelied. Meine Schwester macht ihn schon nach und bringt mich damit zum Lachen.«
»Und – gilt es nichts?«
»Ich glaube an das Recht, gegen Machtworte aufzubegehren, wenn sie irregeleitet sind.«
»Was sagt Ihre Mutter dazu?«
»Nicht viel. Sie ist jetzt meistens ziemlich stumm. Sie weiß, dass ich Briefe bekomme. Sie tut so, als würde sie es nicht merken.«
»Das scheint mir nicht klug von ihr.«
»Ich lasse sie herumliegen, damit sie sie liest.«
»Das spricht für keine von Ihnen.«
»Nein. Gegen uns.«
Gabrielle schüttelte den Kopf. »Ich kann das nicht billigen. Ich hätte mich nie gegen meine Eltern aufgelehnt. Oder sie hintergangen.«
»Dann finden Sie nicht, dass eine Frau selbst darüber bestimmen sollte, wen sie heiratet?« Lucile fragte es hitzig.
»Doch. In vernünftigem Rahmen. Und Maître Desmoulins zu heiraten ist nicht vernünftig.«
»Ach. Das heißt, Sie täten es nicht?« Luciles Blick war der einer Frau, die sich nicht recht zwischen zwei Musselins entscheiden kann. Sie hob einen Zipfel ihres Rocks auf, ließ den Stoff langsam durch die Finger gleiten. »Die Sache ist nur die, Mme d’Anton – ich liebe ihn.«
»Da wäre ich nicht so sicher. Sie sind gerade in dieser Phase, in der Sie in irgendwen verliebt sein müssen.«
Lucile betrachtete sie
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