Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety
unnötigerweise hinzu, »ist unser Metzger.«
Als Camille erschien, stand Lucile geschmeidig von ihrem Stuhl auf, ging ihm entgegen und küsste ihn auf den Mund. Sie beobachtete sich dabei im Spiegel, sich und auch ihn. Er löste ihre Hände von seinen Schultern und bog sie behutsam zu ihr zurück, zusammengelegt wie zum Gebet. Wie verändert sie mit ungepudertem Haar wirkte, wie dramatisch mit ihren markanten Zügen, der schneeweißen Haut! Gabrielles Feindseligkeit gegen ihn schien ihm eine Spur abzuflauen. Sie sah von ihrem Mann zu Lucile. Er las d’Antons Gedanken: Dieses eine Mal hat er nicht gelogen, nicht übertrieben, er hat gesagt, dass Lucile schön ist, und es stimmt. All dies dauerte nur eine Sekunde: Camille lächelte. Er wusste, seine sämtlichen Verfehlungen würden ihm vergeben, wenn er nur ernsthaft verliebt in Lucile war; sentimentale Menschen würden es ihm nachsehen, und er verstand sich darauf, Sentiment zu erzeugen. Vielleicht war er ja wirklich ernsthaft verliebt, dachte er – denn welchen anderen Namen gab es für das hingerissene Unglück auf Luciles Gesicht, das sein eigenes Gesicht doch gewisslich widerspiegelte?
Was hat sie in diesen Zustand versetzt? Es müssen seine Briefe sein. Im Geist hört er wieder Georges’ Stimme: »Versuch es mit Prosa.« Vielleicht doch kein so unnützer Ratschlag. Er hat so einiges zu sagen, und wenn er es schafft, seine komplexen und schmerzhaften Gefühle gegenüber den Duplessis’ auf ein paar kraftvolle, ausdrucksstarke Seiten zu reduzieren, wird es ihm ja wohl gerade noch gelingen, die Lage der Nation abzuhandeln. Mag sein Leben auch lächerlich und stümperhaft sein, Anlass zum Schmunzeln und sonst nichts – solange nur seine Prosa elegant und herzlos ist und Heulen und Zähneklappern auslöst!
Ganze dreißig Sekunden lang hatte Lucile den Spiegel aus dem Blick verloren. Zum ersten Mal meinte sie, wirklich im Leben zu stehen, als Handelnde, nicht mehr als Zuschauerin. Aber wie lange konnte solch eine Empfindung andauern? Seine körperliche Anwesenheit, die sie so herbeigesehnt hatte, schien ihr nun kaum zu ertragen; sie wünschte, er würde verschwinden, damit sie ihn sich wieder herbeiträumen konnte, aber wie sollte sie solch einen Wunsch äußern, ohne für wahnsinnig gehalten zu werden? Camille derweil entwarf im Geiste den Anfangs- und Schlusssatz eines politischen Pamphlets, aber seine Augen ließen ihr Gesicht nicht los; da er extrem kurzsichtig war, gab dies seinem Blick eine Intensität, von der ihr die Knie weich wurden. Versunken in derlei konträre Gedanken standen sie starr, wie hypnotisiert, bis der Moment – wie das Momente an sich haben – vorbeiging.
»Das ist also die junge Dame, die ihr Elternhaus auf den Kopf stellt und Diener und Geistliche zum Meineid verleitet«, bemerkte d’Anton. »Sagen Sie, meine Liebe, kennen Sie zufällig die Komödien des englischen Dramatikers Sheridan?«
»Nein.«
»Ich dachte nur – falls Sie der Meinung sind, dass das Leben die Kunst imitieren sollte.«
»Wenn es das Leben imitiert«, erwiderte Lucile, »ist mir das schon aufregend genug.« Ihr Blick fiel auf die Uhr an der Wand. »Daheim werden sie mich umbringen!«
Sie warf eine Kusshand in die Runde, griff sich ihren Federhut und lief hinaus ins Treppenhaus. In ihrer Hast hätte sie um ein Haar ein kleines Mädchen umgerannt, das offenbar an der Tür gelauscht hatte und ihr zu ihrer Verblüffung nachrief: »Eine hübsche Jacke haben Sie!«
Abends in ihrem Bett dachte sie, dieser große, hässliche Mann, hmm, da habe ich anscheinend eine Eroberung gemacht.
Am 8. August beraumte der König die Versammlung der Generalstände an – für den 1. Mai 1789. Eine Woche später machte der Präsident des Finanzrats, Brienne, die »Entdeckung«, dass sich in der Staatskasse noch Mittel für genau einen Vierteltag befanden. Er setzte sämtliche Zahlungen von Regierungsseite aus. Frankreich war bankrott. Seine Majestät ging weiterhin auf die Jagd, und wenn er nichts schoss, hielt er diese Tatsache in seinem Tagebuch fest: Rien, rien, rien. Brienne wurde des Amtes enthoben.
So aus den Fugen war alles, dass Claude, obwohl er in Versailles hätte sein müssen, in Paris war. Am Vormittag schlenderte er hinaus in die Augusthitze und ging ins Café du Foy. Sonst saß er um diese Jahreszeit am offenen Fenster in seinem Landhaus in Bourg-la-Reine.
»Guten Morgen, Maître d’Anton«, sagte er. »Maître Desmoulins. Ich wusste gar nicht, dass Sie
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