Brüder und Schwestern
Marty hatte die Keule mit einer rohen und zugleich zielgenauen Bewegung in Brittas Mund getrieben. »Daß du dich wahrhaft erdreistest«, zischte er, »mir jetzt auch noch zu danken! Mich erst kalt und gewissenlos beiseite drängen und dich dann auch noch über mich lustig machen! Oh, mir jetzt zu danken – wie ironisch! Du fühlst dich unverwundbar, was, Prinzesschen? Aber paß mal auf, paß mal auf, das bist du nicht, siehst du! siehst du! siehst du!« Und bei jedem »siehst du« hieb Marty wie von Sinnen von hinten auf den Keulenboden und zwang Britta, lauter kleine Schritte rückwärts zu tun. Sie spürte Brechreiz, immer stärker, und ein Krächzen und Würgen entrang sich ihrer Kehle.
In diesem Moment traten Matti und Erik aus dem Hintereingang des Chapiteaus. Sie hatten nach der Vorstellung auf ihren Plätzen gewartet, ob Britta zu ihnen hochkommen würde. Aber das war ja nicht geschehen. Also waren sie hinunter zu den Logen gelaufen und von dort hinter den Vorhang, wo sie nach Britta fragten und jemand ihnen bedeutete, sie habe das Chapiteau schon vor fünf Minuten verlassen und sei wohl zu ihrem Wagen gegangen. Dorthin machten sie sich gerade auf …
Erik reagierte nicht gleich, als er sah, wie Marty auf Britta einhämmerte. Ihm kam der Gedanke, dies könne der letzte Teil der Zirkus-Inszenierung sein, aber zugleich wußte er, daß er gerade nur Zeit zu gewinnen suchte und hoffte, es möge in dieser Zeit irgend etwas geschehen, das sein Eingreifen unnötig mache.
Indessen war Matti losgestürmt. Er umklammerte Marty von hinten und versuchte, ihn von Britta wegzureißen. Aber Marty wehrte sich und schlug Matti den Ellenbogen in die Rippen, so daß der von ihm ablassen mußte. In diesem Augenblick stürzte sich endlich auch Erik ins Geschehen. Er nahm Marty mit seinen langen Armen in den Schwitzkasten und drückte so fest er konnte zu. Britta vermochte sich loszumachen, doch obwohl sie nun frei war, drückte Erik immer weiter und immer noch fester zu, es hatte etwas zutiefst Befriedigendes für ihn, den Kiefer des Fremden zwischen seinen Rippen und seinem Unterarm knacken zu spüren. Plötzlich schnellte auch Eriks Knie nach oben und bearbeitete den Kiefer noch zusätzlich. Erst ein stechender Schmerz in der Kniescheibe ließ ihn einhalten und Marty wieder freigeben.
Als Erik aufsah, stützte sich Britta gerade mit den Händen auf ihre Oberschenkel. Sie übergab sich, und ihm schoß eine Erinnerung aus seinen frühen Kindheitstagen durch den Kopf: Ruth, wie sie ihm das Erbrechen erleichtert, indem sie, schräg hinter ihm stehend, mit der flachen Hand seine Stirn nach oben drückt und dabei immer wieder murmelt, »gut so, spuck nur alles aus, komm nur, alles soll raus, so ist gut, so ist’s gut«.
Er sprang zu Britta und hielt auf genau diese Weise mit der Hand ihre Stirn. Freilich blieb er hierbei ganz still und stumm, denn manche Worte, das spürte er, waren der Mutter vorbehalten, und benutzte man sie, machte man sich nur lächerlich.
*
»Was war denn das für ein Verbrecher?«
»Er hätte dich umbringen können!«
»Ich darf mir gar nicht vorstellen, was passiert wäre, wenn wir nicht dazwischengefunkt hätten!
»Und ich dachte, du bist glücklich hier! Und dann bringt dich hier einer fast um die Ecke!«
So redeten die Brüder durcheinander, nachdem sie in den Wagen gestiegen waren. Britta wehrte stöhnend ab. Sie ließ sich auf einen Stuhl fallen, warf den Kopf in den Nacken, schloß ein paar Sekunden die Augen und schlug dann mit kaum hörbarer Stimme vor, erstmal eine Flasche Rotwein zu köpfen. Sie bat Matti, unters Bett zu gucken, da müsse sich eine finden, und tatsächlich, als er wieder hochkam, hielt er eine Flasche »Rosenthaler Kadarka« in der Hand. Matti spitzte anerkennend den Mund, und Erik fragte Britta, wo sie die denn herhabe. Sie antwortete beinahe tonlos, von Devantier, der habe vor ein paar Tagen solche Flaschen verteilt, wie er überhaupt ab und an Bückware verschenke, die er im Tauschhandel gegen Freikarten erhalte.
Sie stießen miteinander an, und die Brüder schauten stumm zu Britta, begierig zu erfahren, was denn nun eigentlich Sache war.
Sie fuhr mit Daumen und Zeigefinger den Stiel ihres Weinglases herauf und hinunter und kam auf den letzten Ausruf ihrer Brüder zurück: »Glücklich … wehe den Glücklichen. Offenbar ziehen sie die Unglücklichen an, wie das rote Tuch den Stier anzieht. Ich wußte das nicht. Ich habe das völlig unterschätzt. Ich hatte ja bis
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