Brüder und Schwestern
in die Richtung.« Karin Werth, mit dem Rücken zum Weg stehend, den sie hergekommen war, wies nach vorn, über Jagielkas Zuchtbetrieb hinweg.
Sie möge sich nicht verlaufen, und sie möge recht bald wieder hier vorbeischauen.
Das erste könne sie zu ihrem Leidwesen nicht versprechen, das zweite schon.
Und Karin Werth wanderte, Jagielka zuwinkend, an der Scheune vorbei von der Lichtung in den Wald hinein. Doch hielt sie sich dort nicht geradeaus, sondern bog bei der ersten Gelegenheit nach links; keine zehn Minuten, und sie war, wenngleich für Heiner Jagielka nicht sichtbar, erneut auf Höhe der Scheune. So ging sie wieder auf Gerberstedt zu, aber wie sie so ging, ereilten sie die finstersten Gedanken. Dies alles, dachte sie, ist ein ganz furchtbarer Betrug. Wie habe ich mich eben verstellt. Und wieviel Kraft hat mich das gekostet. Ich bin ja so schlapp, als wäre ich 50 Kilometer gelaufen und nicht erst sieben oder acht. Ist es nicht ein Witz, daß man so unsauber werden muß, um davonzukommen? Man muß spionieren, wie unwürdig und eklig das ist. Bisher hatte ich kein schlechtes Gewissen, ich war nur hoffnungslos, und die Hoffnungslosigkeit war weich und dämpfend, fast angenehm. Keine Dornen darin. Und jetzt? Plagt mich die Vorstellung, diesen Jagielka zu mißbrauchen. Habe ich ihm nicht versprochen, ihn unter keinen Umständen zu beschädigen? Aber ich beschädigte ihn – schon während ich’s versprach. Aber gibt’s denn eine Alternative? Wie soll man’s denn zuwege bringen? Wie soll man denn gehen, wenn’s verboten ist? Wenn man doch bloß in Ruhe gehen könnte, in Frieden! Das ist das Letzte und vielleicht sogar Schlimmste, was einem hier angetan wird, dieses Aufladen von Schuld, nur weil man das Natürlichste von der Welt will, gehen.
*
Tatsächlich schaute Karin Werth dann sehr bald wieder bei Heiner Jagielka vorbei, aber so, daß es ihm verborgen bleiben mußte; sie setzte ihr Auskundschaften auf äußerst stille Art fort.
Sie nutzte dazu schon die folgende Nacht. Zwischen den hohen, dicht bei dicht stehenden Bäumen des Waldes, der die Lichtung säumte, hielt sich noch die Restwärme des heißen Tages. Formationen kühler Luft schoben sich dort hinein, glichen für Minuten erzigen Adern in taubem Gestein. Karin Werth stieß mal mit den Schienbeinen, mal mit den Armen an diese frischen Einschlüsse, mal fuhr das Erz ihr auch über die Kopfhaut und ließ sie zittern. Über ihr funkelten alle Sterne der nördlichen Hemisphäre, wenngleich die meisten von ihnen durch die beinahe undurchdringlichen, teils wie ineinandergesteckten Zweige der Tannen und Fichten verdeckt waren. Schien auch der Mond? Ja, auch der. Von einer Stelle des Weges aus hatte sie ihn gesehen, eine Sichel, aber eine, die nur aus blitzendem Rand bestand, spitz und scharf.
Sie suchte sich eine Stelle, von der aus sie den Platz vor der Scheune gut würde überblicken können. Bloß allerfeinste Striche des blendenden Lichts, das sie hinter den Brettern wußte, waren sichtbar, quer in der Luft liegende helle Fussel, die wahrzunehmen sie Sekunden brauchte und die ein Nichteingeweihter vielleicht sogar übersehen hätte. Sie fand einen moosigen Platz und kniete sich darauf; sie führte nichts mit sich, was sie hätte ablegen müssen. Im übrigen war es erst gegen halb zehn, sie war beizeiten hier erschienen, denn sie hatte kalkuliert, wenn die Blumen um drei Uhr früh in Westberlin sein sollten, mußte deren Verladen spätestens zwei Stunden vor Mitternacht beginnen.
Im Bruchteil einer Sekunde schnellte eine weiße Zunge aus dem dunklen Scheunenschlund, die Tür war aufgegangen. Unwillkürlich duckte sich Karin Werth. Heiner Jagielka erschien, auf dem hellen Lichtstrahl, der bis in den Wald reichte, ging er wie auf einer Bühne. Nach ein paar Metern verharrte er. Wahrscheinlich verschnauft Jagielka, dachte sie. Er wird jetzt all seine Blumen geerntet und in Kisten verpackt haben, und nun wird er auf den Fahrer warten.
Während sie sich noch immer duckte, weil Jagielka, nicht weit von ihr, noch immer verschnaufte, kam ihr das, was sie tat, absurd vor. Wie in einem Indianerfilm, dachte sie, du liegst hier auf der Lauer wie Winnetou. Sie lachte inwendig. Hatte sie es beim Lesen nicht immer einfallslos gefunden, wenn eine Romanfigur in einer ungewöhnlichen, von ihr nie durchlebten und ihr doch bekannten Situation sagte oder dachte: wie im Film? Oh, Karin Werth wollte milde sein, und sie war ja milde, sie las natürlich weiter, sie
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