Brüder und Schwestern
sie einmal am Abendbrottisch über Gerüchte gesprochen hatten, die Karin Werth betreffend durch Gerberstedt waberten.
Willy sagte, was absolut gesichert war: daß Karin Werth zwei seiner nun längst erwachsenen Kinder in Deutsch unterrichtet hatte. »Aber warum fragen Sie? Woher kennen Sie sie denn?«
»Ich kenne sie noch gar nicht. Ich habe nur just in dieser Woche ihren Lebenslauf gelesen. Sie hat sich auf eine Stelle in meinem Verlag beworben.«
»Also ist sie im Westen …«, murmelte Willy, und er schlußfolgerte, dann müsse ja das Gerücht von der Republikflucht stimmen und ihr diese sogar geglückt sein. Er würde das Matti berichten.
»War sie eine gute Deutschlehrerin?« erkundigte sich Overdamm.
»Eine überragende – jedenfalls, wenn man meinem Sohn Glauben schenken darf.«
»Und das darf man.«
»Aber natürlich darf man das.«
»Dann sollte ich die Dame also zum Gespräch bitten?«
»Tja, warum nicht?«
Als der allseits bekannte und bewunderte, in harter Verhandlung wie im Smalltalk geübte Overdamm schließlich ging, hatte Willy das stolze Gefühl, ihm noch einen wichtigen Rat mit auf den Weg gegeben zu haben.
*
Die Geschichte der Lehrerin war, zumindest für einige entscheidende Tage, mit der des dubiosen Pflanzenfreundes Heiner Jagielka verbunden geblieben.
Noch in derselben Woche, in der Karin Werth Einblick in dessen Hexenküche erhalten hatte und von Jagielka auch über den neuen und streng geheimen Bestimmungsort seiner Blumen informiert worden war, tauchte sie wieder bei der Scheune am Rande der Waldlichtung auf. Anders als gewöhnlich trug sie keine engen Jeans, sondern eine olivfarbene Stoffhose, außerdem ein kariertes Männerhemd, dessen Ärmel sie bis zu den Ellbogen hochgekrempelt hatte. Vor allem jedoch führte sie einen Rucksack mit sich, in dem ein paar Frühstückssachen verstaut waren. Und war das nicht klug? Erweckte sie damit nicht den Eindruck, sie befände sich auf einer längeren Wanderung und betrachte die Scheune nur als Zwischenstation? Sie hatte wohl die letzten Tage zum intensiven Nachdenken genutzt.
Als sie auf die Lichtung trat, war Jagielka nicht zu entdecken. Auch war die Tür zur Scheune geschlossen. Karin Werth trat näher, rief »Hallo?« Nichts. Sie wiederholte ihr »Hallo?« Da öffnete sich die Tür einen Spalt, und Jagielka steckte seine Nase heraus. Er gewahrte, wen er vor sich hatte, und zeigte sich vollständig.
»Ich bin’s nur«, sagte Karin Werth.
»Das ist schön«, sagte Heiner Jagielka mit einer Schlichtheit, die sie erstaunte. Ganz am Anfang, auf dem Markt, so erinnerte sie sich, hatte er ihr schmalzige, geradezu lächerliche Komplimente gemacht. Dann, im Verlaufe eines langen Gesprächs, war er, allerdings ohne sein Schmalzen und Sich-Spreizen ganz ablegen zu können, immer offener und ehrlicher geworden. Und jetzt, war er jetzt bei ihrem Anblick schon in der Sicherheit, die keine Narretei mehr braucht?
Das Gegenteil war der Fall. Auch er hatte seit ihrem letzten Treffen angestrengt überlegt. Vielleicht war er, ganz gegen seine Natur, zu blauäugig gewesen? Vielleicht hatte das unbekannte Fräulein ihn um den kleinen Finger gewickelt? Denn unbekannt, unbekannt war es ihm doch geblieben. Was hatte er, bei Lichte besehen, über diese Frau erfahren? Daß sie seine Nelken nicht mochte, weil ihr die Phrasen nicht gefielen, in denen sie steckten. Und? Was besagte das schon? Millionen anderen Staatsbürgern ging es doch genauso, Millionen andere Bürger ließen im kleinen Kreise gleichfalls keinen Zweifel daran. Und vielleicht war es sogar nur eine Behauptung von ihr gewesen, vielleicht war das Fräulein zu ihm geschickt worden, um ihn auszuhorchen und an seine verborgensten Gedanken zu gelangen, vielleicht gehörte es zur Firma? Halt, beruhigte er sich dann, wenn es zu der gehörte, hätte er das wohl schon zu spüren gekriegt, denn in seinem Erfinderstolz und in seiner Eigenliebe hatte er Dinge erwähnt, über die unbedingt zu schweigen war, gewiß, er hatte sich unzuverlässig gezeigt und wäre von verantwortlicher Stelle ohne Zweifel längst mit seiner Unzuverlässigkeit konfrontiert worden. Ohne Zweifel? Wie sollte er das wissen? Vielleicht wollte das Fräulein noch mehr Material sammeln, und vielleicht würde er deswegen erst später, und dann aber richtig, in Bedrängnis geraten? Er mußte das herausbekommen.
»Was führt Sie zu mir?« fragte er förmlich.
»Ach, nichts Bestimmtes. Ich befinde mich mal wieder auf einer Wanderung
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