Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Brüder und Schwestern

Brüder und Schwestern

Titel: Brüder und Schwestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Meinhardt
Vom Netzwerk:
vorher unbemerkt auf diesen Laster zu springen, auf den gottverdammten.
    Sie verbrachte auch noch die drei folgenden Nächte auf dem Moos und in dem Harz, sie wollte feststellen, ob die Abläufe vor der Scheune immer die gleichen waren oder ob sich vielleicht irgendwann eine Gelegenheit auftat, doch sie konnte keine entdecken.
    *
    Sie überlegte, ihr Vorhaben abzublasen. Aber der Gedanke, mit Beginn des neuen Schuljahres wieder Krümnicks Anweisungen Folge leisten zu müssen, der Gedanke, mit den Schülern nicht offen über die Widersprüche im Lande reden zu dürfen, der Gedanke, einer mächtigen Dreieinigkeit aus Heuchelei, Phrasendrescherei und Schurigelei unterworfen zu sein, war ihr mittlerweile unerträglich. Sie spürte, sie würde noch so ein Jahr, wie es das vorige gewesen war, nicht überstehen, nicht ohne ganz ergeben zu werden. Kurzum, sie mußte konsequent bleiben, sie mußte das Unternehmen durchziehen, sie war noch jung, aber sie kannte sich schon gut, der letztmögliche Zeitpunkt zum Handeln für sie war – jetzt.
    Sie ging abermals zu der Lichtung, es war Vormittag, und es begann zu regnen, einer der starken, schnurgerade fallenden Sommerregen, Millionen glasige Fäden, die Himmel und Erde verbanden. Sie durchtrennte sie mit jedem Schritt, lief durch das Geblöke der LPG-Rinder, hörte die Tropfen auf das Asbestdach der »Fortschritt«-Verwaltungsbaracke kartätschen, sie wandte ihren Blick dorthin, Myriaden einzeln aufschlagender Geschosse spritzten auseinander und ineinander, es sah aus, als nähme eine Kompanie Scharfschützen sich das Dach vor. Da wurde sie ganz ruhig, Karin Werth. Es schien ihr, als habe sie nie zuvor die Welt so klar und deutlich gesehen – nicht begriffen, aber wenigstens gesehen.
    Ohne anzuklopfen, trat sie in die Scheune. Heiner Jagielka machte sich gerade im Morast der Badewannen zu schaffen. Als er Karin Werth gewahrt hatte, spreizte er seine Finger und schlug sie mehrmals nach unten, um den Schlamm abzuschütteln. Er ging auf Karin Werth zu und frotzelte, ob das wohl Sehnsucht sei, die sie hier hochtreibe bei dem Sauwetter; aber es war nicht allein Frotzelei, denn Heiner Jagielka schaute, wenngleich nur verhohlen, auch ein bißchen erwartungsvoll.
    »Ich will mit Ihnen reden«, sagte Karin Werth in nachdrücklichem Ton. Er bückte sich zu einem Eimer und wusch sich die Hände im darin befindlichen klaren Wasser, er öffnete einen der zwei Spinde, die den Tresor mit den Chemikalien flankierten, entnahm dort zwei Handtücher und reichte ihr eines. Sie trocknete sich ihr Gesicht und rubbelte sich die Haare. Als sie ihr Gesicht wieder frei hatte, nickte Heiner Jagielka nur, sieh an, wie ernsthaft er sein konnte, und sie begann zu sprechen.
    »Nicht der Zufall hat mich heute zu Ihnen geführt, wie Sie sich vielleicht denken können. Der Himmel war schon bedeckt, als ich mich aufmachte, es war absehbar, daß es regnen würde, und trotzdem bin ich los. Und es war, das will ich Ihnen gleich sagen, das will und muß ich Ihnen gestehen, auch kein Zufall, daß wir letztens miteinander gefrühstückt haben. Auch damals bin ich schon mit einer Absicht hier gewesen. Und zwar – wollte ich Sie aushorchen. Ja, das und nichts anderes war mein Ziel. Und es geht noch weiter, ich will Ihnen alles beichten, ich lag die letzten vier Nächte ganz in der Nähe auf der Lauer, um Sie zu beobachten, ich habe Sie ausspioniert, viermal hintereinander.«
    Heiner Jagielka fühlte seine dunkelsten Ahnungen bestätigt. Er wollte Karin Werth unterbrechen, aber die ließ ihn nicht zu Wort kommen: »Bitte sagen Sie noch nichts, ich möchte erst zu Ende reden, ich werde Ihnen gleich erklären, warum ich Sie aushorchen wollte und warum ich hier herumgekrochen bin wie ein Wurm, und wenn ich das getan habe, werden Sie meine Gründe vielleicht verstehen und Nachsicht üben. Ja, ich hoffe geradezu inständig, daß Sie mich verstehen und mir verzeihen werden. Anderenfalls – anderenfalls bin ich geliefert! Das ist wahrlich eine seltsame Entwicklung, Herr Jagielka. Alles hat sich nun umgekehrt. Wie haben Sie während unseres Frühstücks gesagt? ›Ich bin in Vorleistung getreten, ich habe Ihnen mein Reich geöffnet …‹ Und das ist tatsächlich so gewesen. Ich dagegen habe mich Ihnen entzogen und Sie nicht in mein Innerstes blicken lassen. Aber ich konnte nicht. Ich mußte Sie in die Irre führen. Nur daß ich dabei auch noch so große Worte gebraucht habe, Sie erinnern sich meiner Worte vom Beschädigen?

Weitere Kostenlose Bücher