Brüder und Schwestern
die Abdrücke ihres Hinterns, ihrer Glieder, ihrer Brüste und sogar ihrer Wirbelsäule. Und Britta schien zu wissen, was sie alles offenbarte, und schien zu spüren, daß sie nun einen Kontrapunkt setzen mußte. Blitzschnell wickelte sie sich aus. Sie zeigte noch einmal einen Spagat, einen ganz anderen als vorhin; sie streckte ein Bein nicht aus, sondern drückte das Knie nach vorn, sie wirkte auf einmal stürmisch, wie auf dem Sprung, als wolle sie etwas durchbrechen oder niedergaloppieren. Perplexer Matti: Dies war alles andere als eine wacklige Übung, dies war mehr als fragmentarisch, dies war ja schon eine richtig ausgefeilte Nummer! Und diese Nummer, sie war sinnlich und kraftvoll, elegant und räuberisch. Während er das dachte, hangelte sich Britta, mit ihren Füßen Schlaufen ins Tuch drehend, ganz nach oben. Dort streckte sie ihre Beine zur Seite und ließ die langen Tücher zwischen ihren Zehen herunterhängen. Es wirkte jetzt, als fülle sie die ganze Manege aus und weite sie. Sie schwebte ja wie eine Königin, die über ihr Volk gebot! Doch noch einmal zerstörte sie das Bild, das sie gerade geschaffen hatte, ganz so, als sei es ihr zu pathetisch. Sie klappte die Beine zusammen und ließ sich fallen. Von der obersten Schlaufe wurde sie aufgehalten. Sie fiel aber, kopfüber, gleich weiter, fiel immer schneller, Matti hörte es knallen, so ruckartig strapazierte Britta die Tücher, und jetzt wurde sie doch aber gar nicht mehr aufgehalten, meinte er, das Herz stockte ihm, denn Britta schoß, mit dem Kopf zuerst, am Tuch entlang dem Boden entgegen. Keine zwanzig Zentimeter darüber kam sie abrupt zum Halten. Ihr Körper wurde kurz nach oben gerissen, ihre Haarspitzen fielen in die Sägespäne.
Britta schlüpfte aus der letzten Schlaufe. Sie deutete einen Ausfallschritt an und schaute fragend zu Matti, aber es war ein Fragen mit herausfordernd gehobenem Kopf.
Matti klatschte begeistert, und sie stieß einen Juchzer aus und ballte strahlend die Hände zu Fäusten.
*
Jetzt saßen sie wieder auf der Wohnwagentreppe. Langsam verschwanden die anderen Wagen im Dunkel. Nur das Chapiteau blieb wie ein Gebirgsmassiv sichtbar. Sie tranken Weißwein aus Plastikbechern, viel zu warmen Murfatlar, und Matti fragte Britta Löcher in den Bauch.
»Daß du so was kannst«, sagte er kopfschüttelnd, »wie lange hast du denn daran geübt?«
»Über drei Jahre. Ich habe in dem Moment damit begonnen, als es mit dem Jonglieren zu Ende war – eigentlich sogar schon davor.«
»Was heißt das: sogar schon davor?«
»Es heißt, daß ich gesucht habe, was ich Neues machen könnte. Nicht zielgerichtet, das nicht. Alles geschah eher unterschwellig. Ich wußte einige Zeit gar nicht, daß ich suche. Aber dann fiel mir plötzlich eine Kleinigkeit auf, die ich schon Tausende Male übersehen hatte. Das waren die Tücher. Sie hingen beim Training der Artistinnen von der Trapezschaukel, sie dienten denen bloß zum Hochklettern. Wie gesagt, auf einmal bemerkte ich sie. Und ich fragte mich plötzlich, warum eigentlich niemand an ihnen turne. Das könnte doch schön aussehen, dachte ich mir.«
»Es sieht schön aus, das kannst du wissen.«
»Wenn du das sagst, glaube ich es.« Britta gab ihm einen Kuß, und er mußte an Erik denken, dem sie wohl kaum geglaubt hätte, soviel ließ sich aus ihren Worten gut und gerne schlußfolgern.
»Du siehst besonders schön aus da oben«, sagte Matti.
»Ich sehe schön aus?«
»Schöner als je«, bekräftigte er.
»So meinst du das also.« Britta klang enttäuscht. »Mehr ist es also nicht! Die Nummer hat dir nur gefallen, weil ich dabei schön aussehe!«
»Jetzt bist du beleidigt.« Matti legte ihr den Arm um die Schulter.
»Bin ich.«
»Aber das brauchst du nicht zu sein. Deine Schönheit gehört doch in die Nummer. Du arbeitest sie doch organisch ein. Es ist ganz was anderes als damals beim Jonglieren. Da hat sie mehr oder weniger nur übertüncht, was an Technik fehlte. Jetzt aber schaffst du eine tolle Verbindung zwischen ihr und der Technik. Jedenfalls empfinde ich als Laie es so.«
»Wirklich?« fragte Britta.
»Sag bloß, du spürst es nicht selber.«
Britta schwieg, und er wiederholte: »Das mußt du doch selber spüren, oder nicht?«
»Schon. Aber trotzdem hast du einen wunden Punkt berührt. Es ist nämlich folgendermaßen: Seit damals habe ich einen Horror, davon zu leben, daß ich schön aussehe. Ich kam mir so falsch vor, wie eine Hochstaplerin. Ich wollte danach eine Nummer
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