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Brüder und Schwestern

Brüder und Schwestern

Titel: Brüder und Schwestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Meinhardt
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ein kurzer quiekender Laut, wie ihn erschrockene Katzen hervorbringen. Polizist und Sanitäter schauten zu ihr hoch, und sie trat unwillkürlich einen Schritt zurück.
    »Sie da oben!« rief der Polizist.
    Veronika atmete ein paarmal kräftig und zeigte sich wieder am Fenster.
    »Bitte, warum haben Sie eben aufgeschrien?«
    »Es ist … direkt unter meiner Wohnung, das ist doch furchtbar … deshalb.«
    Der Polizist schaute sie mißtrauisch an. »Sie kennen die Tote nicht?«
    »Wie sollte ich sie kennen, sie liegt ja unter den Decken, ich sehe doch gar nichts von ihr.« Einen Moment später begriff sie, daß sie einen Fehler gemacht hatte. Gleich würde der Polizist die Decke zurückschlagen – und sie würde sich die schrecklich zugerichtete Frau Willys anschauen müssen. Sie war sich sicher, es könne sich bei der Toten um keine andere als um Ruth Werchow handeln; denn wenn Veronika auch so gut wie nichts über sie wußte, wenn Willy in der Dunckerstraße auch am allerwenigsten über Ruth geredet hatte, so war er doch nicht umhingekommen, ihr, Veronika, zu gestehen, er könne nicht mehr über Nacht bleiben, da seine Frau Wind von der Affäre gekriegt und buchstäblich verrückt gespielt habe. … Aber wenn es nur ein dummer Zufall war, daß jetzt hier, direkt vor ihrem Fenster, jemand aus Gerberstedt lag? Nein, unmöglich, es mußte Ruth Werchow sein! Und sie lag hier, weil sie, auf welchen Wegen auch immer, herausgefunden haben mußte, wer Willys Geliebte war und wo sie wohnte. Nun grüßte Ruth sie beide, grüßte mit voller Absicht, mit ihrem zerschmetterten Körper, der eine einzige Vorhaltung war, eine blutige Klage, die sich ihnen für alle Zeit ins Gedächtnis brennen sollte.
    Veronika stand wie angewurzelt. Der Polizist bückte sich, um die Decke zurückzuschlagen. Da hielt ihn ein Sanitäter zurück: »Nicht! Man soll das nicht zeigen. Die Frau«, er deutete hoch zu Veronika, »ist doch schon angegriffen genug. Sie würde auch gar nichts mehr erkennen … kein Gesicht.«
    Der Polizist lupfte nur ein wenig die Decke, so, daß Veronika nichts sehen konnte. Er schauderte zurück und schlug sie sofort wieder zu, starrte danach sekundenlang in den Himmel, wo der weiße Mond über den Hochhäusern stand, ein großer kalter Batzen, an dem er seine Augen kühlte.
    Veronika schloß das Fenster, und ihr Mann sagte, noch einmal kurz und trocken lachend: »Wäre besser auch für mich gewesen.«
    Sie holte tief Luft und wälzte sie im Mund um, so vermied sie, ihrem Krüppel beizupflichten. Im nächsten Moment dachte sie an Willy. Er mußte jetzt arglos im Zug sitzen, er konnte noch nichts von dem Selbstmord seiner Frau wissen. Ob Ruth ihm zu Hause einen Abschiedsbrief oder wenigstens einen kurzen Hinweis hinterlassen hatte? Was, wenn da nichts lag und Willy nach seiner Ankunft rätselte, wo sie war? Veronika nahm sich vor, ihn später am Abend anzurufen; und dieser durchaus karitative Gedanke half ihr auch sehr, sich des aufflackernden Selbstvorwurfs zu erwehren, sie trüge irgendeine Mitschuld an dem Absturz Ruths. Es ist allein Willys Angelegenheit, sagte sie sich, nicht meine, und trotzdem werde ich tun, was man als anständiger Mensch tun muß, ich werde ihn anrufen und ihm beistehen, obwohl es eindeutig nicht meine Angelegenheit ist.
    *
    Kurz vor Mitternacht traf Willy im Werchowschen Haus ein. Auf dem zerschabten Linoleum des Küchentisches lag ein DIN-A4-Papier. Zunächst sah er nur, daß es sich um einen von zwei Personen unterzeichneten Schreibmaschinentext handelte. Er vermutete einen ebenso wichtigen wie leidigen behördlichen Brief, den Ruth ihm hingelegt hatte. Mit ungutem Gefühl nahm er ihn zur Hand. Aber was war das – sein Kontrakt mit Veronika war das ja! Um Himmels willen, dies war der Beweis, daß er eine außereheliche Tochter hatte. Also wußte Ruth Bescheid, nur deswegen lag ja wohl dieses Schreiben hier – weil sie ihm das begreiflich machen wollte.
    Er ließ sich auf einen Stuhl fallen, und als er erstmal saß, fühlte er sein Herz rasen. Er konnte zuhören, wie das Klopfen immer lauter wurde. Damit ist zwischen uns alles zerstört, dachte er, nichts wird sich jemals wieder kitten lassen. Aber wie hatte Ruth den verdammten Schrieb bloß finden können? War der von ihm nicht perfekt versteckt worden? In der kleinen fensterlosen Dachkammer hatte er das Papier deponiert, zwischen altem Kinderspielzeug und vielen anderen Papieren, allerlei ehrwürdige, zum Teil noch von Rudi stammende Dokumente

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