Brüder und Schwestern
gespießt hätte.
Woran bemerkte Veronika Willys Verfall? Was entdeckte sie, nachdem sie ihn zwei Wochen, und zwei Wochen, und zwei Wochen nicht gesehen hatte? Einmal fiel ihr auf, daß er seinen breiten Brustkorb, der ihr doch immer imponiert hatte, nicht mehr spannte, und seine Brüste keine harten Plateaus mehr bildeten. Ein andermal entdeckte sie, daß von den scharfen Falten, die Willy in die Wangen schnitten und seinem Gesicht etwas Entschlossenes gegeben hatten, lauter kleine Fältchen abzweigten, so daß es ihr nun runzlig und sogar ein wenig dreckig erschien. Wieder ein anderes Mal waren ihr seine Augenhöhlen viel tiefer geworden und die Augen selbst viel kleiner; als ob er nicht mehr sehen und selbst nicht mehr gesehen werden wollte. Das war am auffälligsten und verstörendsten für Veronika: daß Willy nahezu alles Selbstvertrauen eingebüßt hatte. Und wo sonst sollte sie es deutlicher spüren als auf und an ihrem Podest? Willy wich ihrem Blick aus, wenn sie sich dort miteinander zu beschäftigen begannen, und was sich früher ganz schnell geöffnet hatte bei ihr, blieb jetzt versperrt. Woraufhin er sich gleich entmutigt fühlte. Zwar hatten sie auch in all den Jahren zuvor nicht jedesmal binnen Sekunden zueinandergefunden; und doch hatte Willy den Bogen rausgehabt, ein Bogen war das, den er mit seinem Glied beschrieb, paar sachte Pinselstriche auf die noch verschlossene Veronika, dann, wenn sie schon ein wenig nachgab, noch paar Tupfer, und vielleicht ein anzügliches Wort – und hinein ins Vergnügen. Als ob er das alles verlernt hätte. Wie kann man denn das nur verlernen? wunderte sich Veronika. Er stocherte ja unbeholfen wie ein Jüngelchen an ihr herum. Er hielt auch die Luft an dabei, so konzentrierte er sich. Und diese Nebensächlichkeit – daß er, so nahe bei ihr, völlig verkrampft die Luft anhielt – entsetzte sie mehr als alles andere. Willy hatte ja Angst vor ihr! Er fühlte sich ihr nicht mehr gewachsen, das war offensichtlich. Aber warum denn?
Weder fragte sie ihn das, noch sagte er etwas. Sie waren einfach nicht gewohnt, einander zu erzählen. Es rächte sich nun, daß sie beide in der vollkommenen Entblößung sich zugleich immer vollkommen voreinander abgeschottet hatten. Einer wußte ja beinahe nichts vom anderen, und jetzt war es zu spät, das zu ändern. Und noch etwas kam hinzu, was scheinbar Profanes: Seit Ruth Willy quasi überführt hatte, mit einer anderen Frau ins Bett zu gehen, konnte er es sich nicht länger leisten, die Nächte in Berlin zu verbringen. Veronika und ihm blieb nur mehr die kurze Zeit zwischen dem Ende der Veranstaltung bei Zeiller und der Abfahrt des letzten Zuges nach Thüringen. Daran mochten sie sich nicht gewöhnen. Es zwang sie zum schnellen Verkehr und machte vor allem Willy erst recht nervös.
Diejenige, die Konsequenzen zog, war Veronika. Freilich ließ sie Willy nichts davon wissen. Was ging es ihn auch an, daß sie jetzt noch mit einem anderen ihrer beider Wohnung aufsuchte, es war ja Notwehr gewissermaßen, sie wollte endlich wieder zittern, nicht immer nur zagen. Und weshalb gab sie Willy, da er nun eigentlich schon ausgetauscht war, nicht den Laufpaß? Sie wäre sich schofelig vorgekommen, Willy, mit dem sie hier in glücklichen Tagen eingedrungen war, einfach vor die Tür zu setzen. Er sollte weiterhin ein Nutzungsrecht haben, was die Wohnung und sie selber betraf, so lange, wie er mochte; sie war es gewohnt, für etwas Schönes, das sie sich leistete, etwas weniger Schönes zu erdulden. Außerdem glaubte sie, Willy werde bald aufgeben. Mittlerweile endete doch fast jedes ihrer Treffen mit einer Enttäuschung oder gar einer Erniedrigung für ihn. Warum sollte er sich das ewig antun?
Es war an einem kalten Wintertag, als er dann tatsächlich seinen Rückzug erklärte. Der typische Geruch verbrannter Kohle erfüllte das Zimmer. Die Eisblumen auf der dünnen Fensterscheibe zerrannen. Willy deutete auf sie und sagte mit belegter Stimme: »Genauso ist es mit uns. Alles löst sich auf.«
Veronika begriff, dies war der Moment, auf den sie gewartet hatte. Sie sagte bestimmt: »Nun werde bitte nicht kitschig.«
Willy setzte ein entschuldigendes Lächeln auf: »Hast recht. Ich sollte sachlich bleiben. Also dann. Wir müssen uns trennen, Veronika. Wenn ich bei dir bin, hadere ich längst mehr, als wenn ich nicht bei dir bin, das ist – einfach so gekommen. Dir gefällt es doch auch nicht mehr, oder?«
Sie war so einfühlsam, nicht zu nicken,
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