Brüder und Schwestern
bewahrte er dort auf. Den ominösen Kontrakt hatte er eingeheftet mitten in einen dicken Ordner mit Materialien der von Rudi geführten SPD-Ortsgruppe aus den 20er Jahren, unauffindbar doch eigentlich für Ruth, dessen war er sich sicher gewesen. Hatte sie ausgerechnet in jenem Ordner etwas gesucht, etwas ganz anderes? Nur, was sollte das gewesen sein? Sie hegte keinerlei historisches Interesse. Nein, sie mußte überall und selbst im hintersten Winkel des Hauses nach Belegen für seine Affäre geforscht haben, akribisch und wahnhaft.
Willy vermutete, Ruth liege schlaflos in ihrem Bett. Er beschloß, sich ihr ohne Verzug zu stellen, was sollte es auch für einen Sinn haben, damit zu warten? Er öffnete behutsam die Schlafzimmertür, ließ, um Ruth nicht zu blenden, das Licht aus, tastete ungelenk nach ihr und fand mit seinen Fingern nur die glattgezogene flache Decke vor. Er machte Licht.
Sie wird bei Em-El sein, sagte er sich nach kurzer Überlegung, sie wird Trost gesucht haben bei ihr, eine andere Möglichkeit gibt es nicht. Er rief Marieluise an. Während es im Hörer tutete, schaute er, nur um seiner Erregung Herr zu werden, auf seine Armbanduhr. Es war schon 20 Minuten nach Mitternacht.
»Hallo.« Marieluises Stimme klang ausdruckslos, ihrem Hallo folgte weder ein Frage- noch ein Ausrufezeichen.
»Ich bin’s, Willy. Entschuldige die späte Störung, aber ist Ruth bei dir?«
Marieluise antwortete nicht.
»Sie ist bei dir, stimmt’s?«
Wieder schien es, als bleibe Marieluise stumm, aber dann sagte sie doch etwas: »Nein, deine Frau ist nicht hier. Hier ist sie nicht, Willy.«
Er kannte Marieluise nun bestimmt schon seit 30 Jahren, und die letzten 20 davon hatte er sich nicht des Eindrucks erwehren können, sie begegne ihm mit Vorbehalt und Kühle. Jenes Empfinden hatte sich sogar immer weiter verstärkt. Je mehr er sich von Ruth entfremdete, um so abweisender verhielt sich auch Marieluise ihm gegenüber. Willy war schon klar, warum: Weil Ruth Marieluise regelmäßig ins Vertrauen zog, weil sie sich dauernd bei ihr ausheulte. Er wußte genau, daß es so war, denn die beiden Frauen trafen sich oft, und wenn sie sich getroffen hatten, meinte er jedesmal, Ruth versuche, ihm gegenüber selbstbewußter und gelassener aufzutreten. Was ihn selber anging, so fühlte er sich im Beisein Marieluises äußerst unwohl. Er war heilfroh, wenn sie sich nicht begegneten. Kamen sie aber zusammen, was bei diesem oder jenem Anlaß unvermeidlich war, und trafen sich ihre Blicke, so meinte er, vor ihr am Marterpfahl zu stehen. Dagegen vermochte er nichts, aber auch gar nichts zu tun. Er gehörte doch an den Pfahl! Er war ja tatsächlich schuldig! In gewisser Weise empfand er es als verdiente Strafe, daß Marieluise ihm auf ihre zurückhaltende und doch unmißverständliche Art zusetzte. Gleichzeitig spürte er Zorn darüber, sich niemals verteidigen, sich nicht wenigstens einmal alles von der Seele schreien zu dürfen. Was das wäre? Was er schriee? Hör endlich auf, mich zu behandeln, als wäre ich ein Mörder! Frag lieber mal deine arme Freundin, frag mal meine mir lieb gewesene Frau, wie sie sich mir gegenüber verschlossen hat, frag sie das doch mal, na los, frag sie! Ja, wie gerne würde er Marieluise so was entgegenschleudern. Und in einem Abwasch würde er ihr auch gleich noch sagen, daß im Grunde nichts, was sich im Werchowschen Hause abspielte, sie etwas anging, denn gehörte sie vielleicht zur Familie? Wohl kaum!
Aber das alles mußte heruntergeschluckt werden. Nichts ließ sich tun gegen Marieluises Widerwillen. Mit ihren stummen Vorwürfen, mit ihrer ausdrucksvollen Beherrschtheit quälte sie ihn sogar mehr als Ruth mit ihren verzweifelten, wie irrsinnigen Ausbrüchen. Und jetzt, da sie miteinander telefonierten, quälte sie ihn stärker als je zuvor. ›Hier ist sie nicht, Willy.‹ Das klang ebenso abweisend wie wissend. In ihrer Stimme lag eine offene Verachtung, die er so noch nie von ihr gehört hatte; und zugleich lag darin ein entschiedenes Bekenntnis: ›Hier ist sie nicht, Willy – aber woanders.‹
»Wo ist sie dann? Sag schon!«
»Ja, ich sag’s dir.« Eine Mischung aus Düsternis und Hohn schlug ihm entgegen, ein für Marieluise völlig untypischer Ton, der ihn erschreckte. Und bei dieser Ankündigung blieb es.
Nach einigen Sekunden der Stille sagte Willy mit äußerster Beherrschung: »Em-El, bitte!«
Sie fauchte leise, mit ebensolcher Beherrschung: »Nicht Em-El, du, du
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