Brüder und Schwestern
…«
»Marieluise!«
»Komm her, dann erfährst du es.«
Willy war zu überrascht, um gleich zu antworten, und als er endlich bereit war, etwas wie »ja aber warum denn« zu fragen, hatte Marieluise schon aufgelegt.
Er hatte dann gerade in aller Eile das Haus verlassen, als drinnen das Telefon läutete.
Veronika ließ es sieben- oder achtmal klingeln und legte den Hörer wieder auf die Gabel. Eben noch, rekapitulierte sie, war besetzt gewesen, und jetzt, jetzt ging Willy nicht mehr an den Apparat. Bestimmt hatte er einen Abschiedsbrief vorgefunden, daraufhin hatte er seine erwachsenen Kinder vom Tod ihrer Mutter informiert, und nun wollte er erst einmal mit niemandem mehr sprechen, wollte allein sein, um das Geschehene zu verarbeiten. Das mußte man respektieren, da drängte man sich besser nicht auf.
Indessen überquerte Willy die Brücke über der Schorba. Sie war mit einer dicken Schicht Schnee bedeckt, die das helle Mondlicht reflektierte. Die Landschaft wirkte deutlich hervorgehoben, scharf aus der übrigen Welt herausgestochen, weißeste Dunkelheit, darin silbrige Flußwindungen, hartkantige Hausgiebel, zackige Baumsilhouetten. Willy schaute im Laufen nach oben und entdeckte neben dem Mond, als wäre der die blasse Sonne, und als wäre die Nacht der hellichte Tag, einen Kondensstreifen. Unwillkürlich blieb er stehen. Ein Kondensstreifen, um diese Zeit, wie seltsam. Und der behielt sogar seine Konsistenz, der wollte sich gar nicht auflösen, ein regelmäßig geflochtenes weißes Tau, das straff gespannt am Himmel hing. Obwohl Willy nicht der Typ war, der sich an einem Anblick wie diesem weidete, mußte er sich zwingen, seinen Marsch fortzusetzen. Daß ihm die Welt ausgerechnet jetzt ein so wundervolles, ein schon überirdisch schönes Bild bot! Er nahm es als Zeichen, aber er hatte keine Ahnung, wie er das Zeichen deuten sollte, und diese Ahnungslosigkeit versetzte ihn in noch größere Anspannung.
Marieluise wohnte auf der Bergseite Gerberstedts, drei Gassen unterhalb des Friedhofs. Ihr Haus war jetzt das einzig erleuchtete in der Gegend. Die Haustür stand schon einen Spalt offen. Willy öffnete sie ganz und stampfte geräuschvoll mit den Füßen auf die Veranda, zum einen, um sich den Schnee von den Sohlen zu klopfen, zum anderen, um Marieluise anzuzeigen, er sei eingetroffen. Aber sie ließ sich nicht blicken. Sie gewährte ihm nicht die Gunst einer Begrüßung. Er trat in den Flur, rief halblaut, »Marieluise?« und ging, nachdem er keine Antwort erhalten hatte, ins Wohnzimmer. Und dort saß sie, das Gesicht von der Tür abgewandt, auf einem ihrer schweren Gründerzeitsessel und rührte sich nicht.
*
Übrigens war das gesamte Zimmer im Gründerzeitstil gehalten. An der Längswand stand ein schmaler, hoher Schrank, in dessen Türen Andeutungen weiterer Türen eingelassen waren, so daß der Eindruck erheblicher Tiefe entstand. Gegenüber hing ein Spiegel mit einer kleinen Balustrade, auf der eine vertrocknete, aber nicht verschrumpelte, eine beinahe schon hölzerne, äußerst voluminöse rote Rose lag, die ewige Rose, wie Willy sie nannte: Er wußte, Marieluise hatte sie vor nun schon neun oder zehn Jahren von ihrem Aziz geschenkt bekommen. Bei einem weiteren Schrank, einem mit Glastüren, stachen die schmalen und doch stabilen gedrechselten Säulen hervor, die seine verschiedenen Böden stützten. Hinter dem Glas befanden sich alte medizinische Bücher und in Fraktur gedruckte Erstausgaben von Romanen und Gedichten, zum Beispiel Walsers Geschwister Tanner und Heines Buch der Lieder , die Marieluise, wie auch die Möbel selber, von ihrem Vater geerbt hatte. Schon er war Arzt gewesen, und ebenso sein Vater. Das ganze Haus verströmte den Odem des Bürgerlichen, ohne etwas besonders hervorzuheben oder gar pompös auszustellen. Alles war einfach da, so wie Bäume in einem Wald sind und Hufe an einem Pferd.
Willy aber war sich hier schon zu Zeiten, als es zwischen Marieluise und ihm noch keine Spannungen gegeben hatte, fremd vorgekommen. Nahezu ärmlich. Im Wehleschen Heim spürte er eine Beständigkeit, gegen die sich alle von ihm mitgetragenen Versuche, in diesem Lande etwas Neues aufzubauen, nur fade und hilflos ausnahmen. Das Haus dämpfte den Optimismus, den er damals noch gehabt hatte. Es schien ihm unverwüstlich zu sein, von einer Stärke und einem Glanz, die sich wohl kaum übertreffen ließen. Um so mehr erfreute es ihn, wenn er wieder einmal eines der im »Aufbruch« gedruckten Bücher, die
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