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Brüder und Schwestern

Brüder und Schwestern

Titel: Brüder und Schwestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Meinhardt
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er Marieluise geschenkt hatte, zwar nicht in ihrem legendären Glasschrank, aber an hervorragender Stelle in dem wuchtigen Bücherregal in ihrem Arbeitszimmer entdeckte. Es war ihm das schönste Lob, der Ausweis bester Qualität seiner Produkte. Indes, schon seit Jahren ließ sich Marieluise von ihm ja keine Bücher mehr schenken. Ihr Fragen nach frisch gedruckten Titeln und ihr anschließendes Wünschen, es war einfach ausgeblieben.
    Jetzt, da sie ihm den Rücken zuwandte, fühlte er sich hier deplazierter und unwohler denn je. Er räusperte sich. Endlich reagierte Marieluise. Sie drehte sich zu ihm. Ihr Gesicht war aschfahl. »Da bist du nun also«, sagte sie leise, und es schien Willy, als sagte sie es mehr zu sich als zu ihm.
    Marieluise erhob sich und trat so nahe an ihn heran, daß er den Lufthauch spürte, den sie stoßweise aus ihren Nüstern blies. Die Stöße wurden immer stärker, wie auch das Einsaugen der Luft. Dann trat unvermittelt Windstille ein, und Marieluise sagte: »Ruth ist tot. Sie hat sich in Berlin von einem Hochhaus gestürzt.«
    Willy öffnete seinen Mund, brachte aber zunächst nur einen kehligen Laut heraus. Endlich würgte er hervor: »Woher weißt du das?«
    »Weil sie mir einen Abschiedsbrief geschrieben hat.« Marieluise schaute ihn haßerfüllt an.
    »Einen Abschiedsbrief«, wiederholte Willy in leise klagendem Ton. Er mußte daran denken, was Ruth ihm auf den Tisch gelegt hatte. Auch das war also ein Abschiedsbrief, und es war einer, den er selber verfaßt hatte. Er schaute an Marieluise vorbei, sah sich, unförmig wie nie, als Klumpen in dem Spiegel mit der Balustrade. Plötzlich straffte er sich: »Wenn sie so einen Brief geschrieben hat, heißt das doch nicht automatisch, daß sie dann auch wirklich … vielleicht … vielleicht lebt sie ja noch?«
    »Sie hat es getan!« schleuderte Marieluise ihm mit schmerzverzerrtem Gesicht entgegen. »Sie hat es getan!«
    »Aber warst du dabei? Wenn es in Berlin gewesen sein soll – wie willst du es dann wissen?«
    »Weil ich gleich nach dem Entdecken des Briefes bei der Polizei angerufen habe, natürlich in der Hoffnung, das Unglück noch abwenden zu können. Aber es war schon zu spät. Ruth hatte schon alles wahr gemacht. Sie ist haargenau an der Stelle gesprungen, die sie mir in dem Brief angekündigt hat.« Plötzlich begann Marieluise, mit ihren Fäusten auf Willys Brust zu hämmern. »Und du kennst diese Stelle, du kennst sie, du selber hast sie dorthin getrieben, so mußte es ja enden, und nun ist es …«
    Willy drängte sie zurück. »Welche Stelle? Wo soll ich Ruth hingetrieben haben?«
    Sie stürmte an ihm vorbei zum Essenstisch, wo der Brief lag, ein langer Brief, wie Willy bemerkte, denn er umfaßte vier oder fünf Seiten, sie wendete hastig eine Seite, noch eine, fand endlich die gesuchte Passage, zitierte anklagend: »Kosmonautenallee 56.«
    Willy stieß einen überraschten Laut aus. Eben noch, als Marieluise von einer bestimmten Stelle gesprochen hatte, war ihm der bestürzende Gedanke gekommen, sie meine vielleicht das geheime Quartier in der Dunckerstraße. Aber jetzt war ihm auf einmal klar und verständlich, es konnte sich ja tatsächlich nur um Veronikas Wohnung in Marzahn handeln, denn diese Adresse war auf der Kindes-Vereinbarung vermerkt, diese Adresse hatte Ruth gekannt, die andere nicht. Plötzlich bohrte ihm wieder jemand Spieße zwischen die Rippen, nur viel kräftiger als beim ersten Mal. Ein Schrei entfuhr ihm, und er mußte sich krümmen.
    »Willy?« Marieluises Körper spannte sich in professioneller Bereitschaft.
    Er kam stöhnend wieder hoch und schüttelte, Entwarnung gebend, oder auch nur vortäuschend, den Kopf. Dann schlingerte er zur Sitzgruppe und ließ sich auf einen der Gründerzeitsessel fallen. Langsam begriff er alles. Was heute geschehen war und was es bedeutete. Ruth hatte sich umgebracht, und sie hatte es an einem Ort getan, der für ihn, Willy, wie eine Schuldzuweisung war. Hatte sie sich nur deswegen umgebracht? Um ihm Schuld aufzubürden für alle Ewigkeit? Der Gedanke machte ihn wütend. Willy fand, es sei hinterhältig, wie Ruth sich verabschiedet beziehungsweise eben nicht verabschiedet hatte – gewissermaßen noch im Tod mit dem Finger auf ihn zeigend. Und vor dem Tod nicht mit ihm redend, sondern, ein letztes Mal, mit ihrer ach so verständnisvollen Freundin. Er empfand es jetzt als Ohrfeige, daß dort auf dem Tisch ihr letzter Brief lag und er keine Ahnung hatte, was der alles

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