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Brüder und Schwestern

Brüder und Schwestern

Titel: Brüder und Schwestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Meinhardt
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sich geräuschvoll räusperte, denn er wollte nicht wehleidig erscheinen.
    Dietrich Kluge verzog sein Gesicht.
    »Ich kann es um so weniger vergessen, als seitdem die Atmosphäre hier eine andere geworden ist.«
    »Was hattest du erwartet? Jubel, Trubel, Heiterkeit? Sollen wir jetzt so tun, als wäre nichts gewesen?«
    »Ihr sollt nicht so tun, als wäre ich derjenige gewesen, der euch, oder uns, das eingebrockt hat! Ich bin es nicht – und das ist nicht mein Pferd.« Willy versuchte es mit diesem alten russischen Unschulds-Spruch, den, wie er wußte, auch Dietrich Kluge kannte; salopp sollte das klingen und möglichst unaufgeregt.
    »Da kann ich nur sagen, du hast denen die Pferde gesattelt, mindestens! Oder willst du ernsthaft behaupten, die Truppenteile wären ohne deinen Beistand und vielleicht noch ohne dein Wissen hier einmarschiert?«
    »Mit meinem Wissen ja. Aber nicht mit meinem Beistand.«
    »Wissen ist in dem Fall schon Beistand.«
    »Das ist doch Quatsch, das ist einfach nicht wahr, du kennst überhaupt nicht die Zusammenhänge. Niemand von euch, die ihr euch jetzt so selbstgerecht gebärdet, kennt sie, niemand.«
    »Zusammenhänge, Zusammenhänge! Immer, wenn sich heutzutage jemand aus einer peinlichen Sache rauswinden will, verweist er auf die ach so komplizierten Zusammenhänge. Ich sag dir was: Die Wahrheit ist immer ohne Zusammenhang. Sie ist pur, klar und gültig wie ein Kristall, und alles drumherum ist nur taubes Gestein, Verschleierung.«
    »Verschleierung?« Jetzt kochte in Willy doch Wut hoch. »Ich verschleiere nichts! Ich habe mich am Telefon mit Händen und Füßen gewehrt, als Altenhof, der Name sagt dir was, ja? als Altenhof von der Gebietsparteileitung ankündigte, es würden hier binnen einer halben Stunde Einsatzkräfte erscheinen. Ich habe gesagt, ich regle das selbst, ich habe ein gutes Verhältnis zu meinen Leuten. Aber er hat es mir verboten! Im Grunde war ich abgesetzt für diesen Tag! Ich hatte keine Verfügungsgewalt mehr, das ist die Wahrheit, Dietrich, das ist sie!«
    Aus Dietrich Kluges Gesicht wich, jedenfalls teilweise, das Harte und Selbstgewisse. Da war er nun wieder ziemlich in der Zwickmühle: Er verurteilte Willys Zögern und Zaudern, das ja, aber je länger er mit ihm redete, um so milder wurde er. Empfand er nicht sogar Mitleid? Sie hatten Willy also alles diktiert. Sie hatten auch, oder sogar zuerst, über ihn bestimmt. Im nächsten Moment zwang sich Dietrich Kluge, jetzt bloß den klaren Blick auf die Tatsachen beizubehalten. Wenn Willy denn schon abgesetzt war, wenn er das selber schon deutlich erkannt hatte, warum war er dann nicht zu ihnen gekommen und hatte sie gewarnt?
    Dietrich Kluge fragte ihn das, und wegen der Milde, die er unterdrücken wollte, fragte er es besonders scharf.
    »Was hätte es genützt? Sie wären so oder so gekommen«, antwortete Willy müde. »In dem Moment ließ sich überhaupt nichts mehr machen.«
    »Sie wären so oder so gekommen, natürlich. Aber vielleicht wären wir schon nicht mehr dagewesen? Vielleicht hätten wir uns alle verkrümelt? Und selbst wenn wir uns untereinander in der Kürze der Zeit darauf nicht hätten einigen können, wäre deine Warnung nicht ohne Sinn geblieben – weil dann nämlich ganz klar geworden wäre, daß du uns in einem entscheidenden Moment unterstützt. Es war doch ein entscheidender Moment, Willy, die Besetzung unseres Betriebes! In einem solchen Augenblick nicht zu handeln, ist auch ein Handeln, ein verwerfliches … und … Mensch, das spürt man doch, wenn so ein wichtiger Augenblick gekommen ist, das muß man doch spüren, Willy!«
    Dietrich Kluge schaute ihn eindringlich an, aber Willy wich dem Blick aus; er war malade jetzt, er spürte, wie recht Dietrich Kluge hatte, ihm schwante, daß vielleicht überhaupt Schluß war mit dem Handeln und Aufbegehren, er dachte, zwei, drei, wenn’s hoch kommt vier Chancen kriegt der Mensch, sich grundlegend zu entscheiden, und nutzt er die nicht oder bemerkt er sie nicht einmal, ist’s inwendig vorbei mit ihm, auch wenn er nach außen hin wie gewohnt weiterlebt.
    Ihre Unterredung endete, indem Dietrich Kluge Willy kurz an den Arm faßte und sagte: »Ich kann nichts mehr für dich tun, leider.« Willy merkte gleich, dies war ein Abschied, ungeachtet dessen, daß sie sich im »Aufbruch« weiterhin sehen würden. Er spürte plötzlich ein Ziehen in der linken Brust; als ob eine unsichtbare Macht ihm ein paar Rippen gebrochen und die spitzen Enden ins Herz

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