Brüder und Schwestern
sie schaute ihn verständnisvoll an.
»Siehst du.«
Im Anschluß bestätigten sich beide mehrmals und in verschiedenen sich ähnelnden Varianten, daß es eine schöne Zeit gewesen sei, eine, an die sie sich fortan immer erinnern wollten, ein jeder für sich.
»Ach ja – und die Wohnung hier?« fragte Willy am Ende.
»Um die kümmere ich mich, laß nur, ich bin doch in Berlin, das erledige ich alles«, sagte Veronika, und noch einmal kam in Willy Freude über ihr handfestes Wesen auf.
»Und Sybille?« fragte er weiter, allerdings ohne zu wissen, worauf er eigentlich hinauswollte. Vielleicht sollte es nur eine Vergewisserung sein, daß sie, sie beide, wirklich ein gemeinsames Kind hatten.
Veronika hob die Augenbrauen, gab ihm wortlos und noch halbwegs höflich zu verstehen, daß dazu ja wohl schon alles gesagt war.
Willy verließ die Wohnung, und während er mit der S-Bahn nach Lichtenberg fuhr, von wo sein Fernzug abging, nahm er sich vor, sein Leben wenigstens so weit in Ordnung zu bringen, wie es ihm jetzt noch möglich sein würde. Er wollte Ruth wieder die Aufmerksamkeit und die Liebe schenken, die ihr ohne Zweifel gebührten. Aus reinem Herzen, redete er sich selber zu, aus reinem Herzen, und nochmal, aus reinem Herzen.
*
Unterdessen näherte sich Veronika dem Elfgeschosser in der Kosmonautenallee in Marzahn, wo sie mit ihrem Mann in einer behindertengerecht umgebauten Parterrewohnung lebte.
Am Morgen hatte es kräftig geschneit. Sie mußte beim Gehen nach unten blicken, um auf dem knöchelhohen, von den vielen Tritten der Passanten schon zermahlenen Schnee nicht umzuknicken. Sie wagte kaum, ihre Augen zu heben, aber als sie es doch einmal tat, sah sie vor ihrem Haus ein Blaulicht blinken. Sofort dachte sie an ihren Mann, freilich ohne heftiges Bangen. Sie lief ein klein wenig schneller, sie befand sich nun schon nahe genug am Eingang, um erkennen zu können, daß sich dort eine Menschenmenge gebildet hatte. Und jetzt erblickte sie ihn, da stand ihr Mann, ein Schemen war er nur, er hatte die Gardine ihres unbeleuchteten Wohnzimmers zurückgezogen und schaute unbewegt nach draußen. Veronika winkte ihm zu, indes, er reagierte nicht, er starrte weiter auf einen bestimmten Punkt zwischen ihnen. Sie reckte den Kopf, um zu sehen, was dort geschehen war, aber eine Frau, die sich von ihr bedrängt fühlte, stieß sie geifernd zurück. Da lief Veronika schnell zu ihrer Wohnung. Von oben würde sie alles bestens überblicken können.
»Jemand hat sich runtergestürzt. Ist noch keine Viertelstunde her«, sagte Holger Gapp, ohne den Kopf zu ihr zu wenden.
Veronika trat neben ihn. »Jemand aus dem Haus?«
»Wohl kaum. Nie gesehen. Es ist übrigens auch kein Er, sondern eine Sie. Es war eine Sie«, Veronikas Mann lachte kurz und trocken, »denn jetzt ist sie völlig zermantscht. Du siehst es nicht mehr, sie haben gerade Decken über sie gelegt. Aber ich hab’s gesehen. Das Blut floß ihr aus dem offenen Schädel wie heiße Rübensuppe aus einem umgestoßenen Topf.«
Veronika verzog das Gesicht, vielleicht, weil sie sich jenes Fließen vorstellte, vielleicht aber auch, weil ihr Mann so ungerührt daherredete.
Sie öffnete das Fenster. Die kalte Luft, der sie gerade entronnen war, schlug ihr von neuem entgegen. Vor ihr, inmitten eines von Sanitätern gebildeten Halbkreises, waren die Decken ausgebreitet, unter denen sich etwas Schmales wölbte, die zersprungene Frau. Das aus ihrem Kopf geschossene Blut hatte den Schnee vor der Hauswand schmelzen lassen. Handtellergroß zeigte sich aufgeweichte, rötlichbraune Erde. Jämmerlich versickertes Leben, dachte Veronika. Sie empfand in diesem Moment Mitleid und Glück: Mitleid für die Frau, die völlig haltlos gewesen sein mußte, und Glück darüber, daß sie selber eine derartige Verzweiflung niemals zuließ. Stumm feierte sie ihren Instinkt, sich rechtzeitig aus mißlichen oder gar gefährlichen Lagen zu befreien, ihren absolut verläßlichen Instinkt, der sich vorhin erst wieder erwiesen hatte.
Veronika wollte gerade das Fenster schließen, als ein Polizeiwagen eintraf. Sie verharrte und hörte, wie der herangelaufene Polizist die Sanitäter fragte, ob etwas über die Identität der Toten bekannt sei.
Wortlos wurde ihm ein Personaldokument gereicht.
Er schlug es auf, führte es im Halbdunkel, das nahe der Hauswand herrschte, wie ein Kurzsichtiger vor seine Augen und fragte: »Wohnhaft in Gerberstedt – wo liegt gleich nochmal Gerberstedt?«
Veronika entfuhr
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