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Brüder und Schwestern

Brüder und Schwestern

Titel: Brüder und Schwestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Meinhardt
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enthielt. Ja, was stand noch alles darin? Diese Frage interessierte ihn brennend. Willy erhob sich schwerfällig, ging auf Marieluise zu und sagte voller Grimm, er wolle den Brief lesen. Er streckte sogar seinen Arm in Richtung des Tisches aus.
    »Der Brief ist nicht für dich«, sagte Marieluise leise, aber so drohend, daß Willy begriff, sie würde ihn niemals aushändigen. Sie fischte den Brief vom Tisch, sah sich kurz im Zimmer um, lief schließlich zu dem Glasschrank und deponierte ihn dort zwischen zwei schweren Medizingeschichtsbänden.
    »Das ist absurd«, rief Willy, »ich war ihr Ehemann«, aber schon einen Moment später wußte er, eine größere Dummheit hätte er nicht sagen können. Was war er Ruth denn am Ende für ein Ehemann gewesen? Einer, der sie nach Strich und Faden betrog!
    »Wie entsetzlich«, flüsterte Marieluise. »Könntest du dich nur selber hören, das ist so entsetzlich.«
    Willy schwieg betreten.
    »Wenn das einzige, was du in dieser Minute zu bejammern hast, die Tatsache ist, daß der Brief nicht an dich ging …«
    »Als ob du wüßtest, was ich bejammere! Als ob du das jemals gewußt hättest! Deine Selbstgerechtigkeit – sie widert mich an! Du mit deinem Aziz, was wißt ihr denn schon? Ihr habt es fein eingerichtet. Die große Liebe angeblich, aber nicht zusammenleben. Wirklich fein. In Wahrheit seid ihr vor dem Alltag geflüchtet, vor allen Gefährdungen. Die schönsten Hirngespinste seid ihr einander, nicht mehr. Ich bin auch geflüchtet, na sicher, aber du hast keinen blassen Schimmer, warum und wovor, und weil du den nicht hast, steht es dir nicht zu, dich so aufzuspielen. Nie stand es dir zu, überhaupt nie, und heute schon gar nicht!« Willy hatte während seiner Rede zornig die Fäuste geballt, war aber immer weiter nach hinten getreten, als wolle er Marieluise verdeutlichen, er halte es kaum noch aus in ihrer Nähe.
    Marieluise indes war bei der Erwähnung von Aziz zusammengezuckt, und ihr zuvor aschfahles Gesicht hatte sich rot gefärbt. Sie sog jetzt wieder Luft ein und erwiderte: »Ich werde auf deine Worte nur insofern eingehen, als ich dir sage: Doch, ich habe durchaus einen Schimmer.« Herausfordernd schaute sie Willy an.
    »So«, sagte Willy.
    »Du denkst vielleicht, Ruth habe sich bei mir immer nur über dich ausgeheult, das stimmt doch, das hast du die ganze Zeit gedacht! Aber ich sage dir, sie hat sich genauso, und vielleicht noch mehr, über sich selber ausgeheult, jedenfalls am Anfang. Über ihre Unfähigkeit, dir das zu geben, wonach du verlangst – und was zu verlangen schön und normal ist.«
    »Dann weißt du tatsächlich über alles Bescheid«, sagte Willy dumpf.
    Marieluise schwieg.
    Plötzlich warf er die Hände in die Höhe und rief: »Aber warum dann immerzu deine Vorwürfe mir gegenüber? Warum?«
    »Weil du ihre Art bald nur noch als Vorwand genommen hast, dich anderweitig zu vergnügen. Weil du Ruth einfach aufgegeben hast. Du hast sie gar nicht mehr an dich rankommen lassen, nicht ihren Körper und nicht ihre Seele. Kein Hilferuf hat dich erreicht. Sie fühlte sich, als wäre sie zu einem Stück Holz geworden in deinen Augen.« Marieluise begann zu weinen. Unter Tränen sagte sie: »Ich weiß, es war für sie eine ähnliche Behandlung wie die, die sie damals erfahren hat …«
    »Bist du verrückt«, fiel Willy ihr ins Wort. »Ich habe sie doch nicht vergewaltigt – ich doch nicht! Wie kannst du es wagen, das zu vergleichen!«
    »Versteh doch, ähnlich nicht im Vorgehen, aber in der damit verbundenen Kälte und Achtlosigkeit. So ist es bei ihr angekommen. Als eigene Wertlosigkeit. Und dieses Wertlose, das ist vor drei Tagen ins Unermeßliche gestiegen, als sie erfahren mußte, daß du mit dieser Veronika, von der sie ja lange schon ahnte, eine Tochter hast. Nein, diese Veronika war im Grunde keine Überraschung mehr. Aber daß da sogar ein Kind ist!«
    »Vor drei Tagen schon«, stöhnte Willy.
    Marieluise holte ein Taschentuch hervor und schneuzte sich, dann setzte sie, schniefend wie ein verschnupftes Mädchen, fort: »Vor drei Tagen. Seitdem muß sie völlig hilflos gewesen sein. Du müßtest mal ihren Brief lesen … aber du kriegst ihn nicht, das hat sie gefordert, und daran halte ich mich.«
    Willy stöhnte. »Wie hilflos? Erklär’s mir, wenn ich’s schon nicht lesen darf.«
    Sie schüttelte erst wie gepeinigt den Kopf und sagte dann: »Nur soviel: Dein neues Kind ist ihr nicht mehr aus dem Sinn gegangen. Es hat eine schreckliche Macht

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