Brüder und Schwestern
den Kindern hatte vermitteln wollen. Es war ihm, als habe er Britta schon mit der Zeugung Sybilles beschmutzt und als beschmutze er sie nun weiter mit jeder Begrüßung, gewiß, sie würde sich auf noch ganz andere Weise getroffen fühlen als Erik und Matti; er mußte schweigen den Kindern gegenüber, allein schon Brittas wegen.
Mitten in seine Überlegungen hinein sagte Marieluise: »In Ruths Brief ist dazu etwas enthalten.«
»Wozu ist etwas enthalten?« fragte Willy irritiert.
»Zu der Frage, was du den Kindern beibringen sollst. Es handelt sich dabei um eine kurze Passage, in der Ruth sich gewissermaßen an dich wendet. Deshalb werde ich sie dir jetzt vorlesen – auch wenn es mir widerstrebt.«
Marieluise ging zu dem Glasschrank, zog den Brief wieder zwischen den dicken Bänden hervor, schaute zu Willy, der atemlos in seinem Sessel hockte, und begann mit stockender Stimme zu lesen: »Marie, nun weißt du also, warum ich zu dem Hochhaus muß. Du begreifst, daß es keine Böswilligkeit Willy gegenüber ist, nicht? Um Böswilligkeiten zu begehen, muß man stark sein, ich aber, ich bin schwach. Ich kann nicht mehr. Ich bin nicht mehr fähig, an etwas anderes zu denken als an dieses Kind. Du wirst sagen, ich soll doch an Erik, Matti und Britta denken, denn das würde mich retten. Aber das habe ich versucht! Und wie ich das versucht habe, Marie! Aber sie sind in mir wie ausgelöscht. Sie sind kraftlos, weil ich kraftlos bin. Das einzige, was ich ihnen gegenüber jetzt noch fühle, ist Scham. Ich schäme mich vor ihnen dafür, daß dieses fremde Kind in mir stärker ist, als sie es sind. Daß ich das zulasse. Daß ich nicht anders kann. Marie, bitte, bitte sorge dafür, daß sie davon nie erfahren. Ich beschwöre dich! Ich flehe dich an! Sie sollen den Ort, zu dem ich jetzt gehe, niemals kennen. Schwöre vor allem Willy entsprechend ein. Falls er, was ich nicht glaube, auf den Gedanken kommt, reinen Tisch machen zu wollen: Halte ihn ab, im Zuge dessen von der besagten Adresse zu reden. Ich will nicht, daß sie erfahren, wie mächtig das andere Kind ist, das ist das letzte und einzige, was ich jetzt noch will.«
»Und so weiter und so fort«, sagte Marieluise dumpf, wobei sie das Blatt sinken ließ.
Willy rieb sich mit auseinanderfahrenden und sich wieder schließenden Daumen und Zeigefinger unablässig die Stirn. »Und sie hat sie so geliebt«, murmelte er. »Eine abgöttische Liebe ist das ja manchmal schon gewesen …«
»Das ist es doch gerade«, stieß Marieluise hervor. »Sie hat sich an die Kinder geklammert, um so fester, je mehr du ihr entglitten bist. Und diese Liebe, die hat bis zur allerletzten Sekunde Bestand gehabt. Warum sonst sollte denn Scham ihnen gegenüber ihr letztes Gefühl gewesen sein? Stell dir vor: Sie wußte nicht mehr weiter, sie war fertig, sie war buchstäblich zerstört, aber sich vor ihren Kindern zu schämen, dazu hat sie noch die Kraft gehabt. Man schämt sich nur vor denen, die man liebt, Willy.« Marieluise hob noch einmal das Blatt und bekräftigte mit durchdringendem Blick: »Nicht vor dir schämt sie sich – aber vor den Kindern.«
Willy starrte Marieluise verständnislos an, darüber, daß sie, obgleich es ihr eben einzig um die Kinder gegangen war, sich nicht hatte enthalten können, am Ende noch einmal ihn zu attackieren. Dann aber machte sich bei ihm langsam Erleichterung breit. Was Ruth da geschrieben hatte und was er in Gänze erst jetzt, da er ihren Worten nachhorchte, verstand – war die Anweisung, den Kindern nicht nur die Adresse, sondern überhaupt die gesamte Existenz von Veronika und Sybille vorzuenthalten. Denn wenn er die Adresse bei sich bewahren sollte, dann wäre es doch vollkommen unlogisch, mit allem anderen herauszurücken. Die Erwähnung der Liebschaft, und vor allem der Tochter, würde von Erik, Matti und Britta doch zwangsläufig mit dem Tatort Berlin, und somit der Tat selber, in Verbindung gebracht werden, und eben das wollte Ruth ja unter allen Umständen vermeiden. Aber natürlich, sagte sich Willy, wenn man die Passage richtig überdenkt, dann enthält sie für mich die Erlaubnis und sogar die Aufforderung zum vollständigen und immerwährenden Schweigen. Ein kaum merkliches Lächeln huschte über sein Gesicht.
Als wenn Marieluise es erkannt und auch richtig gedeutet hätte, sagte sie: »Ich halte es für falsch, was Ruth da verfügt hat, obwohl ich ihre Scham gut verstehen kann. In der Wirrnis, in der sie ohne Zweifel war, ist ihr meines
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