Brüder und Schwestern
Erachtens ein entscheidender Gedankenfehler unterlaufen, und dieser Fehler besteht in der Annahme, die Kinder würden besser fahren, wenn sie bestimmte Dinge nicht wüßten. Aber sie fahren nicht besser damit, das scheint mir eindeutig. Sie werden sich jetzt nämlich ihr Leben lang fragen, warum ihre Mutter sie verlassen hat. Sie müssen sich von ihr im Stich gelassen fühlen. Eine Mutter geht doch nicht von ihren Kindern, und erst recht nicht geht sie ohne ein Wort – das wird unweigerlich ihr vorwurfsvoller Gedanke sein. Und daher, daher würde nur eine vollständige Erklärung der Ursachen ihnen helfen. Auch und gerade die Scham, von der Ruth zuletzt gemartert worden ist, müßte zur Sprache kommen. Die glühende Liebe, die sich darin ausdrückt. Mit anderen Worten, am besten wäre es, wenn auch die drei jene Passage kennen würden, die ich dir gerade vorgelesen habe. Nur dann würden sie alles begreifen, nur dann würden sie ihre Mutter vielleicht verstehen können. Ohne dieses Wissen aber werden sie sich von ihr verraten glauben, und das wäre eine verheerende und für mich eigentlich nicht hinnehmbare Umkehrung der tatsächlichen Ereignisse.«
»Du willst ihnen doch nicht etwa diesen Abschnitt vorlesen?« Willy starrte Marieluise mit feindseligem Blick an.
»Ich sagte: eigentlich. Das bedeutet, daß ich nichts lieber täte als einzugreifen – und dennoch nicht eingreifen werde. Weil ich es nicht darf. Ich muß Ruths Wünschen Folge leisten, selbst wenn es mir schwerfällt. Das bin ich ihr schuldig. Ich werde also nicht gegen ihren letzten Willen handeln, jetzt ebensowenig wie später.« Sie schaute Willy traurig an, fügte spitz hinzu: »Du kannst ganz beruhigt sein. Von mir wird niemand was erfahren.«
Willy lag auf der Zunge zu antworten, da bedanke er sich auch recht schön für ihre Großzügigkeit, aber er bezähmte sich, er wollte Marieluise jetzt, da sie angekündigt hatte, sich still zu verhalten, nicht unnötig reizen, er wollte nicht riskieren, daß sie bei Gelegenheit plötzlich doch noch zu plaudern begann.
»Du selber wirst natürlich auch schweigen, es liegt ja in deinem Interesse«, sagte sie. »Aber irgend etwas mußt du deinen Kindern ja trotzdem erzählen. Du wirst nicht den Ahnungslosen spielen können, das wäre nicht glaubwürdig. Also, was wird es sein, das du ihnen auftischst?«
Willy zog die Stirn kraus, als überlege er: »Alles ist noch so frisch … Ich weiß nicht genau. Ist nicht so einfach.« Aber während er diese Worte sprach, schwirrten ihm schon andere durch den Kopf, Satzfetzen, mit denen er hoffte, seinen Kindern das Geschehene erklären zu können. Und bitte, diese Satzfetzen waren beileibe keine Ausgeburt seiner Phantasie, sondern die Wahrheit und nichts als die Wahrheit – dafür würde Willy sogar einen Zeugen angeben können, und nicht irgendeinen, sondern den glaubwürdigsten, der sich in dieser Angelegenheit überhaupt denken ließ.
Es war gegen halb vier, als sich Willy von Marieluise verabschiedete. Draußen schien wie gehabt der Mond. Seine Krater waren von einem blassen, eisigen Blau. Willy warf den Kopf in den Nacken und atmete tief aus. Es war so kalt, daß der Atem wenig später wie eine dahinziehende Zirruswolke den Mond verdeckte. Willy, der ihr nachschaute und währenddessen die nächsten Wolken ausstieß, dachte an den Kondensstreifen von vorhin. Er wußte auch jetzt beim besten Willen nicht, was das für ein Zeichen gewesen sein sollte. Hatte es ein Seil zum Aufhängen dargestellt? War es ein Hinweis auf Ruths Selbstmord gewesen? Aber Ruth hatte sich nicht erhängt, sondern von einem Haus gestürzt. Ach, gar kein Zeichen. Was hatte er sich denn auch eingebildet. Der Himmel, dachte sich Willy, fängt an zu leuchten, zu blitzen, zu grollen, zu wispern, zu stöhnen, zu greinen, zu weinen, wann und wie es ihm gefällt, wirklich dumm von mir zu glauben, der kümmere sich um mich.
*
»ruth zu tode gekommen erwarte dich zuhaus« – das telegrafierte Willy am nächsten Morgen sowohl an Matti als auch an Britta. Erik erwischte er per Telefon in dessen Büro in Berlin. Er informierte ihn mit denselben dürren Worten, und auf Eriks inständiges Nachfragen, was genau sich abgespielt habe, antwortete er nur, das könne und wolle er nicht auf diesem unpersönlichen fernmündlichen Wege sagen, Erik möge sich gedulden, er werde es erfahren, sobald alle in Gerberstedt versammelt seien.
Am späten Nachmittag trafen, unabhängig voneinander, die Brüder ein. Sie
Weitere Kostenlose Bücher