Brüder und Schwestern
über sie gewonnen, nur durch sein Dasein. Ihr Kopf, der zerspringe ihr gleich vor fremdem Kind, Kind, Kind, eine zerstörerische Magie, die beendet werden müsse, beendet an dem Ort, von dem sie ausgehe – das sind ihre Worte.«
»Verrückt«, sagte Willy düster.
»Ja, es ging ins Verrückte«, erwiderte, noch einmal sich schneuzend, Marieluise. »Aber es basierte auf einer ungeheuren Erniedrigung – durch dich, Willy. Wie es ohne Erniedrigungen sowieso entschieden weniger Irrsinn gäbe auf der Welt.«
Der ins Allgemeine zielende letzte Satz, das kindische Schniefen und Schneuzen und auch die Tatsache, daß Marieluise ihm etwas durchaus Wesentliches aus dem eigentlich geheimen Brief preisgegeben hatte, stimmten Willy versöhnlich ihr gegenüber, und so tat er etwas Überraschendes: Er ging, ohne sie anzuschauen, denn das wagte er nicht, zu Marieluise, nahm vorsichtig die Fingerspitzen ihrer Hand und fuhr mit dem Daumen darüber. Seine Bitte um Vergebung? Fürchtete er nicht, Marieluise werde ihm, entrüstet, die Finger entziehen? Sie hielt aber ihre Finger nur starr und steif, auch waren sie ganz kalt. Willy streichelte sie weiter und schlug vor, »alles ist so gräßlich, da sollten wenigstens wir nicht länger garstig sein zueinander«.
Nun geschah etwas noch Verblüffenderes: Nach Sekunden der Reglosigkeit ließ Marieluise ihren Kopf auf Willys Brust sinken. Aber sie kam dort nicht zur Ruhe. Wieder mußte sie heftig atmen, das ging schon ins Pfeifen und Schnauben. Sie begann, mit ihrer Stirn an Willys Brust zu rubbeln. Bald drückte sie, wie verneinend, gegen Willy, und auf einmal hob sie die Hände und versuchte, ihm ins Gesicht zu schlagen. Da sie es nicht sehen konnte, verfehlte sie es einige Male mit ihrem Gefuchtel, aber öfter traf sie es. Willy machte indessen keine Anstalten, sein Gesicht zu schützen. Die Arme ließ er herabhängen, die Augen hielt er geschlossen. Und daß er wie eine auf die Füße gestellte Mumie war, stachelte Marieluise offenbar an, ihn immer wütender zu traktieren, sie drückte ihm mit ihrer zitternden Faust die Nase hoch, rutschte ab an einer Augenhöhle vorbei die Schläfe entlang, faßte Willy unvermittelt in den Mund, riß wie wild an seinem Unterkiefer, als wäre der eine klemmende Schublade.
Willy schrie auf. Er griff Marieluise so fest am Handgelenk, daß es knackte, und zog ihre Finger aus seinem Mund. Dann schob er die Angreiferin an ihrem ausgestreckten Arm von sich weg, wobei sich ihre Blicke trafen. In Marieluises Augen war, zwischen den Resten von Wut und Rachedurst, Verlegenheit erkennbar. Allem Anschein nach war sie peinlich berührt von sich selber. Laß mich doch frei, bettelte sie stumm. Willy öffnete seine Hand. Marieluise rieb sich mechanisch die Stelle, an der er zugefaßt hatte, räusperte sich und sagte, sie werde jetzt erstmal in die Küche gehen und ihnen einen Tee kochen.
*
Sie rührten dann beide stumm in ihrem Tee. Man hörte nur das Klacken der Löffel an den Glaswänden. Schließlich beendete Willy die Wortlosigkeit, indem er murmelte, er wisse gar nicht, wie er Ruths Sprung den Kindern beibringen solle.
Ihm war klar, sie würden ihn nach den Gründen fragen, und nicht nur fragen, geradezu löchern würden sie ihn. Sie würden nach verschütteten Geschichten graben, um in denen jetzt, im nachhinein, eine Erklärung zu finden. Jedes noch so verblaßte Zeichen aus der Vergangenheit würden sie auf das heutige Geschehnis hin untersuchen. Aber wie sollte er ihnen denn alles gestehen! Die Vorstellung, Erik, Matti und Britta von seinem Betrug zu beichten und von dessen Ausgeburt, grauste ihn. Er ahnte, die drei würden sich, wenn sie erst alles erführen, von ihm abwenden, am vehementesten Matti, vielleicht nicht ganz so deutlich Erik, am stärksten getroffen aber Britta. Willy durfte gar nicht an seine einstmals Jüngste denken und an den Spruch, der sie beide verband. »Na, meine Lieblingstochter«, so hatte er Britta früher nach der Arbeit oft begrüßt, und ihre kecke und selbstgewisse Antwort war immer gewesen: »Möchte sein, dass ich deine Lieblingstochter bin, ich bin ja deine einzige.« Und dies zu sagen, hatte er auch nach der Geburt Sybilles beibehalten, allein schon, um ja keine Fragen der in seiner Liebe sich sonnenden Britta herauszufordern. Ihre übliche selbstverständliche Antwort aber hatte ihm jedesmal einen Stich versetzt. Wie in einem Spiegel sah er darin seine verdammte Lüge. Seine Abkehr von den wichtigsten Werten, die er
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