Brunetti 01 - Venezianisches Finale
Selbstmord seiner zweiten Frau zu der Zeit, als ihre Tochter zwölf war - würde kein Gericht in Italien sie unter Mordanklage stellen. Aber alles hing von der Aussage des Mädchens ab, dieses großen Mädchens, Alex, das Pferde liebte und noch ein Kind war.
Brunetti wusste, dass diese Frau eine solche Aussage niemals zulassen würde, ungeachtet aller Folgen. Außerdem wusste er, dass auch er es nicht zulassen würde.
Und ohne die Aussage der Tochter? Die offensichtliche Abkühlung zwischen ihnen, ihr leichter Zugang zu dem Gift, ihre Anwesenheit in seiner Garderobe an jenem Abend, die so ganz aus dem Rahmen fiel, das alles hatte den Anschein der Wahrheit. Wenn sie nur angeklagt wurde, ihm die Spritzen gegeben zu haben, die sein Gehör zerstörten, würde die Mordanklage hinfällig, aber das konnte nur klappen, wenn der Name ihrer Tochter fiel. Und das war unmöglich, wie er wusste.
»Hat Ihr Mann vor seinem Tod, bevor all das geschah«, sagte Brunetti, wobei er es ihr überließ, sich auf ›all das‹ einen Reim zu machen, »irgendwann einmal über sein Alter gesprochen? Hatte er Angst vor dem körperlichen Verfall?«
Sie überlegte eine Weile, offensichtlich erstaunt darüber, wie er auf diese Frage kam. »Ja«, sagte sie dann, »wir haben darüber gesprochen. Nicht oft, aber ein- oder zweimal. Einmal, als wir alle mehr als genug getrunken hatten, haben wir mit Erich und Hedwig darüber gesprochen.«
»Und was hat er da gesagt?«
»Es war Erich, wenn ich mich recht erinnere. Er sagte, wenn er jemals nicht mehr arbeiten könnte - nicht nur nicht mehr operieren, sondern, na ja, nicht mehr er selbst wäre, kein Arzt mehr sein könnte - dann werde er als Arzt wissen, wie dem ein Ende zu machen sei. Es war schon spät und wir waren alle sehr müde, das hat vielleicht dazu beigetragen, dass dieses Gespräch ernster war, als es sonst gewesen wäre. Jedenfalls hatte Erich das gesagt und Helmut meinte, er verstehe ihn sehr gut und würde genau dasselbe tun.«
»Würde sich Dr. Steinbrunner an dieses Gespräch erinnern?«
»Ich glaube schon. Es war ja erst in diesem Sommer. Wir feierten unseren zweiten Hochzeitstag.«
»Hat Ihr Mann sich jemals deutlicher geäußert?« Bevor sie antworten konnte, vervollständigte er seine Frage: »Wenn andere dabei waren?«
»Sie meinen, vor Zeugen?«
Er nickte.
»Nein, nicht dass ich wüsste. Aber in jener Nacht war das Gespräch so ernst, dass wir alle wussten, was gemeint war.«
»Glauben Sie, dass Ihre Freunde es genauso in Erinnerung haben? Dass sie es auch so sehen?«
»Ja, das glaube ich schon. Sie sind nicht mit mir einverstanden, jedenfalls nicht als Frau für Helmut.« Als sie das ausgesprochen hatte, sah sie ihn plötzlich mit schreckgeweiteten Augen an. »Meinen Sie, die wussten es?«
Brunetti schüttelte den Kopf, hoffte sie beruhigen zu können, nein, sie hätten nichts gewusst, sie könnten so etwas über ihn nicht gewusst und dazu geschwiegen haben. Aber er hatte keinen Grund, das zu glauben. Er ließ das Thema lieber fallen und fragte: »Können Sie sich an andere Gelegenheiten erinnern, bei denen Ihr Mann so etwas erwähnt hat?«
»In den Briefen, die er mir vor unserer Hochzeit geschrieben hat.«
»Wie hat er sich da geäußert?«
»Es war mehr scherzhaft. Er versuchte, den Altersunterschied zwischen uns herunterzuspielen. Er schrieb, ich würde nie einen gebrechlichen, hilflosen alten Mann am Hals haben, er werde schon dafür sorgen, dass es dazu nie komme.«
»Haben Sie diese Briefe noch?«
Sie senkte den Kopf und sagte leise: »Ja, ich habe noch alles von ihm, alle Briefe, die er mir geschrieben hat.«
»Ich verstehe immer noch nicht, wie Sie es tun konnten«, sagte er, nicht schockiert oder wütend, nur einfach erstaunt.
»Ich weiß es auch nicht mehr. Ich habe so viel darüber gegrübelt, dass ich wahrscheinlich neue Gründe erfunden habe, neue Rechtfertigungen. Um ihn zu bestrafen? Oder vielleicht wollte ich ihn so schwach machen, dass er völlig von mir abhängig würde. Oder vielleicht habe ich auch gewusst, dass es ihn zu dem zwingen würde, was er dann getan hat. Ich weiß es schlicht nicht mehr und ich glaube nicht, dass ich je verstehen werde, warum.« Er dachte, sie sei fertig, aber sie fügte mit eisiger Stimme hinzu: »Aber ich bin froh, dass ich es getan habe und ich würde es wieder tun.«
Brunetti wandte den Blick von ihr ab. Er war kein Anwalt und wusste nicht genau, wie man ihr Verbrechen bezeichnen würde. Körperverletzung?
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