Brunetti 01 - Venezianisches Finale
Großeltern, was geschehen ist?«
Ein rasches Kopfschütteln. »Nein, ich habe ihnen gesagt, was ich allen gesagt habe, dass ich sie nicht aus der Schule nehmen wollte, als wir nach Venedig gingen.«
»Wann haben Sie sich entschlossen zu tun, was Sie getan haben?«, wollte Brunetti wissen.
Sie hob die Schultern. »Ich weiß es nicht. Eines Tages war der Gedanke einfach da. Das einzige, was ihm wirklich wichtig war, das einzige, was er wirklich liebte, war seine Musik, also beschloss ich, ihm das wegzunehmen. Damals erschien es mir gerecht.«
»Und heute?«
Sie dachte lange nach, bevor sie antwortete: »Ja, es scheint mir immer noch gerecht. Alles, was passiert ist, kommt mir gerecht vor. Aber darum geht es ja nicht, oder?«
Brunetti wusste nicht mehr, worum es überhaupt noch ging. In all dem lag kein Sinn, keine Botschaft und keine Lehre. Es bestand nur noch aus menschlicher Schlechtigkeit und dem schrecklichen Unheil, das daraus erwächst.
Ihre Stimme klang plötzlich sehr müde. »Was geschieht jetzt?«
»Das weiß ich auch nicht«, antwortete er aufrichtig. »Haben Sie eine Ahnung, woher er das Zyankali hatte?«
Sie zuckte die Achseln, als fände sie die Frage unwichtig. »Da gibt es viele Möglichkeiten«, meinte sie. »Er hat einen Freund, der Chemiker ist, oder er könnte es auch von einem seiner früheren Freunde haben.« Als sie Brunettis verständnisloses Gesicht sah, erklärte sie: »Aus dem Krieg. Er hatte viele einflussreiche Freunde damals und viele sind heute wieder einflussreich.«
»Dann sind die Gerüchte über ihn wahr?«
»Ich weiß es nicht. Vor unserer Heirat hat er einmal gesagt, es seien alles Lügen und ich habe ihm geglaubt. Inzwischen glaube ich es nicht mehr.« Das klang verbittert, aber dann zwang sie sich, ihren ursprünglichen Gedanken zu Ende zu führen. »Ich weiß nicht, woher er es hat, aber er hätte es sich problemlos beschaffen können.« Ihr trauriges Lächeln war wieder da. »Ich hatte natürlich Zugang. Und das wusste er.«
»Zugang? Wie?«
»Wir sind nicht zusammen hergefahren. Wir wollten nicht gemeinsam reisen. Ich habe zwei Tage in Heidelberg Station gemacht, um meinen Exmann zu besuchen.« Der Pharmakologe war, wie Brunetti wusste.
»Wusste der Maestro davon?«
Sie nickte. »Mein erster Mann und ich sind Freunde geblieben und haben noch gemeinsames Vermögen.«
»Haben Sie ihm von dem Vorgefallenen erzählt?«
»Natürlich nicht«, sagte sie und hob dabei zum ersten Mal die Stimme.
»Wo haben Sie sich getroffen?«
»In der Universität. Ich bin in seinem Labor gewesen. Er arbeitet an einem neuen Medikament, das die Auswirkungen der Parkinsonschen Krankheit lindern soll. Er hat mich in seinem Labor herumgeführt und danach sind wir zusammen essen gegangen.«
»Wusste der Maestro davon?«
»Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich habe ich es ihm erzählt. Wir fanden nur mit Mühe Gesprächsstoff. Und dies war ein neutrales Thema, über das wir sicher froh waren.«
»Und über die andere Sache haben Sie wirklich nie mehr ein Wort verloren?«
Sie schluckte. Sie wusste natürlich, was er mit der ›anderen Sache‹ meinte. »Nein.«
»Haben Sie je über die Zukunft gesprochen? Was Sie tun wollten?«
»Nein, nicht direkt.«
»Was heißt das?«
»Eines Tages, als ich gerade hereinkam und er zur Probe gehen wollte, sagte er: ›Warte nur, bis die Traviata vorbei ist.‹ Damit meinte er wohl, dass wir dann entscheiden könnten, was zu tun sei. Aber ich hatte mich schon entschlossen, ihn zu verlassen. Ich hatte mich bei zwei Krankenhäusern beworben, einem in Budapest und einem in Augsburg und ich hatte mit meinem ersten Mann gesprochen, ob er mir eventuell behilflich sein könnte, eine Stelle in einem Krankenhaus zu finden.«
Wie man es auch betrachtete, sie saß in der Falle, dachte Brunetti. Es gab Beweise, dass sie schon eine eigene Zukunft geplant hatte, noch bevor Wellauer gestorben war. Und nun war sie Witwe und sagenhaft reich. Und selbst wenn die Sache mit ihrer Tochter bekannt würde, gäbe es Beweise dafür, dass sie auf dem Weg nach Venedig mit dem Vater des Mädchens gesprochen hatte, einem Mann, der auf jeden Fall an das Gift herankam, das den Maestro getötet hatte.
Kein italienischer Richter würde eine Frau für das verurteilen, was sie getan hatte, nicht, wenn sie die Sache mit ihrer Tochter erklärte. Angesichts der Beweise, die Brunetti hatte - Signora Santinas Aussage über ihre Schwester, die Gespräche mit den Ärzten, sogar der
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