Brunetti 01 - Venezianisches Finale
nickte ihnen zu und nahm den Stab auf. Und die Oper ging weiter, aber ich habe immer noch das komische Gefühl, wenn er ihre Bewegung nicht gesehen hätte, wäre er einfach gegangen.«
»Hat noch jemand das beobachtet?«
»Ich weiß es nicht. Keiner der Leute, mit denen ich gesprochen habe, wollte viel über die Vorstellung sagen und das wenige, was sie gesagt haben, klang sehr zurückhaltend. Ich saß in einer der vorderen Logen links, konnte ihn also sehr gut sehen. Wahrscheinlich haben die meisten Leute auf die Sänger geschaut. Als dann die Ansage kam, er könne nicht weiterdirigieren, dachte ich, er hätte vielleicht einen Herzanfall gehabt. Aber nicht, dass er umgebracht worden sei.«
»Und wie haben diese anderen Leute geurteilt?«
»Wie gesagt, sie waren schon fast übervorsichtig, wollten nichts gegen ihn sagen, jetzt wo er tot ist. Aber einige Leute hier haben weitgehend dasselbe gesagt, nämlich dass die Aufführung enttäuschend war. Weiter nichts.«
»Ich habe Ihren Artikel über seine Karriere gelesen, Professor. Sie haben sich sehr positiv über ihn geäußert.«
»Er war einer der großen Musiker dieses Jahrhunderts. Ein Genie.«
»Sie haben diese letzte Vorstellung in Ihrem Artikel nicht erwähnt.«
»Man verurteilt einen Künstler nicht einer schlechten Vorstellung wegen, Commissario, besonders dann nicht, wenn seine gesamte Laufbahn sonst so glanzvoll war.«
»Ja, ich weiß, für eine schlechte Vorstellung nicht und nicht für eine schlechte Tat.«
»So ist es«, pflichtete der Professor bei und wandte seine Aufmerksamkeit zwei jungen Frauen zu, die gerade hereinkamen, jede mit einer dicken Partitur unter dem Arm. »Aber wenn Sie mich jetzt entschuldigen wollen, Commissario, meine Studenten kommen und ich muss gleich mit der Vorlesung anfangen.«
»Natürlich, Professor«, sagte Brunetti, stand auf und streckte die Hand aus. »Vielen Dank für Ihre Zeit und Ihre Hilfe.«
Der andere erwiderte die Höflichkeit, aber Brunetti merkte, dass er sich jetzt auf seine Studenten konzentrierte. Er ging die breite Treppe hinunter und hinaus auf den Campiello Santo Stefano.
Er kam oft hier vorbei und kannte inzwischen nicht nur die Menschen, die in den Bars und Geschäften arbeiteten, sondern sogar die Hunde, die in dieses Viertel gehörten. Im blassen Sonnenlicht lag faul eine rosa-weiße Bulldogge, deren maulkorbloses Maul Brunetti immer nervös machte. Dann gab es noch dieses seltsame chinesische Etwas, das sich aus einer Art Wollknäuel zu einem Geschöpf von unübertroffener Hässlichkeit entwickelt hatte. Und zuletzt kam der schwarze Mischling, der vor dem Keramikladen herumlümmelte und den ganzen Tag so unbeweglich dalag, dass viele Leute ihn schon für einen Teil der Auslage hielten.
Er beschloss, sich im Caffe Paolin einen Espresso zu genehmigen. Die Tische standen noch draußen, aber heute saßen nur Ausländer daran, die sich verzweifelt einzureden versuchten, es sei warm genug für einen Cappuccino im Freien. Vernünftige Leute gingen nach drinnen.
Er begrüßte den Barmann, der taktvoll genug war, ihn nicht zu fragen, ob es in seinem Fall Neuigkeiten gebe. In einer Stadt, in der es keinerlei Geheimnisse gab, hatten die Menschen eine Fähigkeit entwickelt, direkte Fragen zu vermeiden und über nichts zu reden, das über Alltäglichkeiten hinausging. Mochte der Fall sich auch noch so lange hinziehen, Brunetti konnte sicher sein, dass keiner von denen, die auf dieser Ebene mit ihm zu tun hatten - sei es der Barmann, die Zeitungsfrau oder der Bankbeamte - auch nur ein Wort darüber verlieren würde.
Nachdem er seinen Espresso getrunken hatte, war er unruhig und nicht im Mindesten hungrig auf das Mittagessen, dem alle um ihn herum so eilig zuzustreben schienen. Er rief sein Büro an und erfuhr, dass Padovani angerufen und einen Namen und eine Adresse für ihn durchgegeben hatte. Nichts weiter, nur den Namen: ›Clemenza Santina‹ und die Anschrift: ›Corte Mosca, Giudecca‹.
14.
Die Giudecca-Insel war ein Teil Venedigs, in den Brunetti selten kam. Obwohl man von der Piazza San Marco, ja eigentlich von der gesamten Vorderseite der Hauptinsel, die knapp hundert Meter hinüberschauen konnte, war sie vom Rest der Stadt doch seltsam isoliert. Die scheußlichen Geschichten, die man mit peinlicher Regelmäßigkeit in der Zeitung las, über Kinder, die von Ratten gebissen, oder Leute, die nach einer Überdosis tot aufgefunden worden waren, schienen immer auf der Giudecca zu passieren.
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